Название | Die Brüder von Nazareth |
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Автор произведения | Andreas Flamme |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903382084 |
Hier konnte man Geld wechseln und Opfertiere kaufen.
Die 60 Fuß hohen Flügel der Schönen Pforte standen offen und die meisten drängten sich unter den beobachtenden Blicken der Tempelwächter über die Stufen hinein, mit Opferlämmern und Geflügel beladen. Bevor die pilgernden Besucher hindurchgingen, ließen sie einen halben Schekel in die vor den Türen stehenden zwei Schatzkästchen fallen. So viel betrug die Tempeltaxe. Sobald sich der Frauenvorhof mit Menschen gefüllt hatte, sicherten sie die Eingänge und schlossen die Türen. Die draußen gebliebenen Gläubigen mussten warten, bis sie mit dem zweiten Schub eingelassen wurden.
Die in den Frauenvorhof geratenen Männer übergaben ihre Tiere den Söhnen von Levi, die diese an die Opferstellen brachten. Sie trugen lange weiße Leinengewänder. Diese Ehre hatten sie sich erstritten, nachdem sie ihre Gesuche bis nach Rom an Caesar gesandt hatten, der zugunsten der mit Agrippa2 in Streit Liegenden entschieden hatte. Bis dahin hatten sie sich in der Kleidung nicht von den Pilgern unterschieden.
Ein alter Mann mit langem ergrauten Haar und Bart hatte sich auf seinen Stock gestützt. Diesen benutzte er schon seit einigen Jahren, denn er konnte schlecht gehen. Man hatte ihm die Beine bei einer Rangelei mit den Pflegesöhnen des Saulus3 gebrochen. Der ganze Hof war überfüllt mit Menschen, die dicht nebeneinander standen. Eine Münze hätte nicht fallen können.
Doch der Platz um den Alten war frei.
Jeder brachte ihm Ehrerbietung entgegen. Manch einer näherte sich ihm, verbeugte sich und berührte den Saum seiner langen leinenen Kleidung mit Ehrfurcht. Die umstehenden Leute flüsterten, nannten ihn den Gerechten, den Lehrer und die Säule. Es verehrten ihn nicht nur seine Mitstreiter, die Nazaräer, deren Anführer er war, sondern auch alle übrigen Juden und Heiden.
Selbst die hohen Priester und Schriftgelehrten des Tempels verehrten ihn wegen seines gottesfürchtigen Lebenswandels. Er war so rechtschaffen in den Augen Gottes, sodass er einmal im Jahr in den Tempel ging, um für das Volk und sein Heil zu beten.
Doch außer Verehrung ihm gegenüber empfanden sie auch Angst. Eine Angst, er wäre ein guter Hirte, der immer mehr verirrte Schafe in seine Herde aufnehmen könnte. Angst, dass wie sein persönlicher Einfluss auch der der Nazaräer mit jedem vergangenen Tag anwächst und seine Worte immer lauter und durchdringender zu hören wären. Angst, weil sein Stammbaum direkt mit dem König David verbunden war.
Angst, weil sein Bruder nicht irgendeiner war, sondern Jeschua Hamaschiach selbst.
Jener, den die Römer zur Zeit von Tiberius gekreuzigt haben. Jenen, den die Nazarener den Gesalbten nannten. Jener, der zusammen mit Johannes die Menschen im Fluss Jordan taufte und den Weg für das Reich Gottes ebnete. Jener, der eigens seinen Bruder Jakobus als seinen Nachfolger ernannte, bevor er verstarb.
Die Menschen um den Alten machten unwillig Platz. Es näherte sich ihm eine Gruppe Sadduzäer, die von zwei Wächtern mit dicken Holzknüppeln in der Hand begleitet wurden. Der Älteste von ihnen hielt an und sprach:
„Jakobus, ich habe eine Botschaft von dem Hohenpriester Annas4. Er will keine Probleme und keinen Unfrieden an diesem lichten Tag. Der neue römische Prokurator Albinus ist noch immer unterwegs und König Agrippa ist ebenfalls nicht hier. Die Einhaltung der Ordnung liegt in der Hand von Annas und dieser beruft den Sanhedrin5 ein. Er beschloss, dich zu bitten, vor den Menschen zu sprechen.“
„Worüber?“, fragte Jakobus.
„Sage ihnen, sie sollen nicht an der Goldenen Pforte auf den Gesalbten warten.“
„Ich bin kein Prophet, warum habt Ihr mich dafür auserwählt?“
„Du bist weise und die Menschen achten dich, sie werden auf dich hören.“
Jakobus dachte nach. Ein leichter Windhauch spielte mit seinen langen weißen Haaren, doch sein faltendurchfurchtes Gesicht zuckte keinen Augenblick. Nur seine lebendigen Augen betrachteten einmal den Botschafter, dann die versammelte Menge.
„So soll es sein. Wo soll ich sprechen?“
„Klettere dort auf das Dach hinauf“, meinte der Priester und zeigte auf die Spitze der seitlich gelegenen Kolonnade. „Von dort können dich die Menschen am besten hören.“
Jakobus ging los, die Wächter drängten sich vor ihn, um einen Weg durch den Haufen zu bahnen. Beim Anblick der Holzknüppel stoben sie auseinander wie das Wasser bei Ebbe im Meer. Als Jakobus oben angekommen war, ging er an das Geländer. Die Menge hob ihre Köpfe zu ihm und es wurde still. Jeder wollte hören, was der Einzige, der Gerechteste unter den Gerechten ihnen sagen wollte.
In diese Stille donnerte die Stimme eines Pharisäers. „He, Gerechter, du, der so viele Menschen getäuscht hast, damit sie ihre Rettung suchen. Wo ist dieser Weg?“
Jakobus hatte eine solche Frage nicht erwartet. Zunächst stutzte er, schaute in die Gesichter der Menschen, die seiner Antwort harrten, fasste Vertrauen und sprach laut, sodass alle ihn hören konnten.
„Es gibt nur einen Weg, der zu unserem Gott führt. Und dieser Weg ist der der Gerechten. Ich bin gekommen, um Euch allen zu sagen, Euch, von den Dämonen des Belial6 Versklavten, dass das Ende der Tage kommt. Und mit ihm kommt das Reich Gottes. Ich bin gekommen, um Euch eine wohltuende Kunde zu bringen, das Jubiläum7 ist zu Ende, und mit dessen Ende sind alle Eure Sünden getilgt. Ihr werdet zu den Söhnen des Lichtes zurückkehren. Ich bin gekommen, Euch zu sagen, dass der Allmächtige, der sich wegen unserer Sünden zurückgezogen hat, nach Hause kommen wird.“
Jakobus hielt inne und streckte die Hand zum Tempel. „Und zu seiner Rechten wird sitzen der Menschensohn und es werden kommen auf Wolken die himmlischen Heerscharen.“
Seine Worte wurden mit freudigen und begeisterten Ausrufen begleitet.
„Hosanna dem Sohne Davids!“
Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die hinter Jakobus auf dem Dach standen, sahen sich verwundert an. Einer von ihnen sprang auf und stieß den Alten in den Rücken. Jakobus stürzte über das Geländer und schlug hart auf den Steinen auf.
Die Menge trat geschockt von seinem Körper zurück. Keiner konnte das Geschehene glauben. Alle Blicke waren auf Jakobus gebannt. Sie hielten ihn für tot. Doch der Mensch bewegte sich und langsam erhob er sich auf seine vom vielen Beten geschundenen Knie.
Ein neuer Schrei ging durch die Menge. „Er lästert Gott! Werft Steine auf ihn!“
Vor dem Haufen erschienen einige Männer, die anfingen, Steine auf den Alten zu werfen. Dieser hob seine Hände zum Schutz.
„Mein Gott, ich wollte nur ein wenig Zeit, um das Reich Gottes zu sehen“, flüsterte Jakobus mit letzter Kraft.
Aus der Menge schritt ein kleiner untersetzter kräftiger Mann. Er trug einen flachen Holzpflock, mit dem die Frauen die Wäsche wuschen. Sobald er bei dem Gestürzten ankam, hob er ihn, schwang ihn einige Male und ließ ihn niedersausen.
Der Kopf des Opfers zersprang, Teile seines Gehirns und Blut flogen durch die Gegend.
Der Mensch wurde unter den erstarrten Blicken der versammelten Menge zermalmt.
1 Tag der Sündenvergebung, der größte jüdische Feiertag, den nach dem Gregorianischen Kalender ungefähr im September–Oktober gefeiert wird.
2 Herodes Agrippa II. (27; † 92/93 n. Chr.), König der römischen Provinz Judäa von 48 bis 70, der letzte König aus dem Geschlecht der Herodianer.
3 Heiliger Paulus (vor 10 vermutlich; † nach 60).