Seifengold. Peter Höner

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Название Seifengold
Автор произведения Peter Höner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551140



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er, was es hieß, Zeit zu haben. Stunden, Tage, Wochen. Endlich hörte er auf, zu zählen und zu planen, erlebte er eine Art Stillstand. Die Heiterkeit des Augenblicks.

      Er gab seinen Beruf auf. Er kaufte zusammen mit Alice das ‹Rafiki Beach Hotel› und wurde Wirt. ‹Wer nichts wird, wird Wirt.› Sagt man in der Schweiz!

      Er fand Freunde. Robinson Njoroge Tetu zum Beispiel, den Chef der Kriminalpolizei. Sie mochten sich, weil sie über vieles ähnlich dachten. Und waren doch verschieden. Tetus Ehrfurcht vor der eigenen Uniform. ‹Der Polizist: Ein Diener des Staates.› Sie stritten sich sogar deswegen. Aber dann, nachdem Tetu einen weiß Gott verzwickten Fall bravourös gelöst hatte, schickte ihn ihr Bekannter, Hemed S. Lali, nach Lodwar in die Wüste. Mettler konnte seinem Freund nicht helfen. Einfacher wurde Mettlers Leben nicht. Nein. Dafür sorgte und sorgt sein Sohn Ali. Dieser weigerte sich, mit ihnen in Lamu zu leben, im Hotel zu helfen. ‹Nicht solange du und meine Mutter das ‹Rafiki› leiten!› Eine Haltung, die ihn sehr getroffen hatte. Alice sah das nicht so. ‹Wenn der Junge keine Lust hat …› Jetzt lebt er in der Schweiz, hat vor kurzem geheiratet. Er hatte nichts dagegen, bitteschön, der Junge kann heiraten, wen er will.

      Sie waren auf der Hochzeit. Alice und er. Die Eltern des Bräutigams. Aber seit dieser Hochzeit träumt Alice von einem Leben in der Schweiz. Sie ist sogar bereit, das Hotel zu verkaufen und in die Schweiz zu ziehen. Weil ihre Familie jetzt in Europa, in Zürich sei.

      Mettler seufzt. Er hat Ali erst kennengelernt, als der Bursche längst auf eigenen Füßen stand. An den zurückgekehrten Vater glaubte in Lamu niemand. Ali war der Sohn von Mama Alice. Natürlich war es falsch zu erwarten, daß sich zwischen ihnen noch eine Art Vater-Sohn-Verhältnis entwickeln würde. Trotzdem. Er versuchte zum Beispiel, Ali in der berühmten Hotelfachschule in Nairobi unterzubringen. Der Bursche lief davon. Mehrmals. Alice und er schickten ihren Sohn in die Schweiz, steckten ihn in ein Internat. Der Junge weigerte sich, seine mangelhafte Schulbildung aufzubessern. Er motzte, ein Besuch der Schweizer Hotelfachschule in Luzern interessiere ihn nicht. Immer war alles falsch, was er für Ali plante. Aber wenn er seinen Sohn fragte, was er denn nun werden wolle, er müsse doch etwas lernen, einen Beruf, lachte der Bursche nur. Alle zwei Monate wollte er etwas anderes. Einmal wollte er eine Musikgruppe gründen, dann träumte er von einer Ausbildung als Sprengmeister. Was ihm gerade einfiel. Oder er wollte studieren, ein Geschäft gründen, irgendetwas, wovon er sich einen Haufen Geld versprach. Seine Alten abgaunern, nannte er das wohl.

      Schließlich lernte er die Schweizerin Christina Frank kennen. Vor einem Jahr, vielleicht schon früher. Die beiden wollten in Zürich einen Laden eröffnen, in dem sie allerlei Krimskrams verkauften. Tina und Ali, Kunsthandwerk aus Afrika. Und sie heirateten. An einem kalten 2. Mai.

      Mettler schiebt das Bein von seinem Bauch, löst sich vorsichtig aus der Umklammerung von Alice und stiehlt sich aus dem Bett. Er schlüpft in seinen Morgenrock, setzt sich in einen Sessel beim Fenster und zieht die Vorhänge zurück.

      Der Sturm hat nachgelassen. Ein gleichmäßiger, schwerer Regen rauscht auf die Hotelbauten nieder. Gleich nebenan plätschert ein Wasserstrahl von einem der Dächer auf die Terrasse. Die Brandung des Meeres ist schwächer geworden, wahrscheinlich weil die Flut ihren höchsten Stand bereits überschritten hat, und die Wellen die Hotelmauer nicht mehr erreichen.

      Mettler weiß aus Erfahrung, daß sich sein Gedankenkarussell, einmal in Gang gekommen, noch bis in den Morgen weiterdreht. Er weiß auch, daß er die Fragen, die ihn beschäftigen, nicht lösen kann. Nicht ohne Alice. Trotzdem weckt er sie nicht. Seine Angst, irgendwann im Verlauf der nächsten Jahre wieder nach Europa zurückkehren zu müssen, kann oder will Alice nicht verstehen.

      «Was hast du gegen die Schweiz? Was ist denn so schlimm an dem wunderschönen Land?» hatte Alice ihn gefragt, als er nach Ausreden suchte, um ihre Teilnahme am Hochzeitsfest zu entschuldigen. Er antwortete trotzig:

      «Die Schweiz ist nicht schön, und Hochzeiten sind ein Greuel.»

      Die naßkalten Tage – Graupelschauer, dazwischen kurze Aufhellungen einer stechende Aprilsonne – schienen ihm recht zu geben. Später verhüllte eine diesige Wolkendecke die Sonne, und die Bise trieb ihnen das Wasser in die Augen und fuhr unter Jacken und Pullover.

      Die Hochzeit, das Fest an sich, war durchaus erträglich. Das übliche Ritual. Immerhin verzichteten die beiden auf einen Ausflug auf dem Hallwilersee oder ein Fest in einer Waldhütte. Christina und Ali hatten in einem Restaurant einen Saal gemietet, irgendwo hinter Winterthur. Das Essen war ausgezeichnet. Trinksprüche und Kanzelworte beschränkten sich auf ein Minimum. Auf eine Tischordnung wurde verzichtet. Viel Aufwand trieben die beiden wirklich nicht.

      Aber die Gäste, Christinas und Alis Freunde, Christinas Familie. Christina selbst.

      Natürlich geht es ihn nichts an, wen sein Sohn heiratet. Ali heiratete eine Weiße. Eine Schweizerin. Warum nicht. Nur: Warum heiratete er eine Frau, die zehn Jahre älter ist? Eine Frau, die soviel mehr Erfahrung besitzt und dem schmalen Bürschchen in allem überlegen ist. Sie paßte doch nicht zu ihm.

      Zu Christina selbst fällt ihm nicht viel ein. Er hatte sie kaum kennengelernt. Attraktiv ist sie nicht, das kann er sagen, nicht einmal hübsch. Eine kleine Frau und ein bißchen pummelig. Doch das mochte damit zu tun haben, daß sie bereits im siebten Monat schwanger war.

      Alice behauptete später, Christina habe feine Züge, Lachfältchen und ein sinnliches Grübchen über der Oberlippe. Grüne Augen. So genau hatte er seine Schwiegertochter gar nicht angeschaut. Ihre Mutter auf jeden Fall war eine kleine, dicke, bösartige Frau, die den ganzen Abend weder mit Alice und ihm noch mit Ali ein Wort gewechselt hatte.

      Christina hatte ihnen erzählt, daß sie nach ihrer Banklehre mehrere Jahre in Afrika gearbeitet habe. In einem Hotel an der Diani Beach, dessen Namen er schon wieder vergessen hat. Nebenbei, und weil den Einheimischen der Zutritt zu den Touristenhotels verboten war, gründete sie zusammen mit einem Inder eine Ladenkette. In den Nischen der Hotelhallen verkauften sie den Touristen bedruckte Tücher, Afro-Kitsch, geschnitzt und getöpfert. Selbstverständlich gegen harte Devisen. Später soll ihr dann ihr Chef einen Job als Vermögensverwalterin und Anlageberaterin vermittelt haben. Immobilien.

      Jaja, Christina Frank kennt seine Wahlheimat, daran zweifelt Mettler keinen Augenblick. Auch ihm wollte man vor Jahren einen solchen Hotelshop schmackhaft machen. Die Lösung seines Devisenproblems. Wertlose Schillinge würden sich in Dollars, Deutsche Mark und Schweizerfranken verwandeln. Doch er und Alice wollten in ihrem Hotel keine Krämerbude. Abgesehen davon, daß diese Art von Geschäften nicht über jeden Zweifel erhaben war. Doch er sagte nichts. Auch nicht, daß er ihre Firma kannte.

      Selbstverständlich gehörten Christinas Freunde aus Afrika zur Schar der Hochzeitsgäste: Judith Kibo, eine bildhübsche Kalenjin, die zusammen mit Christina in die Schweiz gekommen war, als diese von ihren Chefs, Frau Stocker und Lomazzi, in die Schweizer Geschäftsverwaltung berufen wurde. Der indische Geschäftspartner von Christinas Ladenkette, Ralf Vir. Henrik Imbugwa Kimele, ein Sohn oder Vetter des kenyanischen Finanzministers.

      Die wichtigsten Gäste aber, zumindest für Christina, waren wohl Esther Stocker, eine etwa fünfzigjährige Frau, von der es hieß, sie sei vor Jahren die Geliebte eines afrikanischen Ministers gewesen, und der Italie-ner Salvatore Lomazzi, der gerade von einer Geschäftsreise aus Ostafrika zurückgekehrt war. Lomazzi kannte Lamu:

      «Ein häßlicher Ort. – Da gehe ich doch lieber gleich nach Zanzibar.»

      Wenn Mettler sich vorstellt, wie Tetu die Hochzeitsgäste beurteilt hätte … Schmarotzer wäre wahrscheinlich noch die höflichste Bezeichnung gewesen. Leute, die offenbar nichts arbeiten, die kein Vermögen erbten und doch alles haben, die sich aufführen, als gehöre ihnen die Welt, erregen den Verdacht eines jeden gradlinigen Beamten. Nur sehr selten wird ein Reicher durch seine Arbeit reich, und einer wie Lomazzi hat sich bestimmt noch nie die Hände schmutzig gemacht. Mettler kann Tetu verstehen, wenn er solche Leute verdächtigt, Blender, Betrüger – Banditen zu sein.

      Der Hotelier späht durchs Fenster und lauscht in die Nacht hinaus. Die Regennacht ist so stockdunkel, daß es nichts zu sehen gibt. Nicht einmal die allernächsten Dinge. Die Mauer, die den Balkon ihres