Название | Im Fallen lernt die Feder fliegen |
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Автор произведения | Usama Al Shahmani |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552093 |
Nosche konnte besser Arabisch als ich. Im Iran musste sie viel aus dem Koran auswendig lernen. Sie schrieb auch kleine Gedichte. Mein Vater meinte, sie hätte es von ihm geerbt. Ich erinnere mich gut an eine Diskussion zwischen Nosche und meinem Vater.
«Die deutsche Sprache wirkt viel bescheidener als die arabische», sagte meine Schwester zu ihm.
«Wie kommst du auf diese Idee?», fragte er.
«Auf Deutsch sagt man: Meine Schwester, du und ich gingen zusammen. Auf Arabisch ist es unmöglich, den Satz mit der dritten oder zweiten Person zu beginnen. Der Sprecher nennt sich immer zuerst», sagte Nosche.
«Die Logik des Arabischen ist in diesem Fall, mit dem Sprecher zu beginnen, weil der Sprecher den Anspruch hat, sich als Ersten zu erwähnen. Das hat nichts mit Demut zu tun, meine Liebe», erklärte Vater.
«Aber Papa, manchmal ist deine Sprache unlogisch», mischte ich mich ein.
«Wieso meinst du?», fragte mich mein Vater verwundert.
«Bevor du ein Auto hattest, sagtest du uns, wenn du zu spät nach Hause kamst: Der Zug hat mich verpasst, nicht umgekehrt. Meinst du damit, der Zug hätte auf dich warten müssen oder was?»
Nosche schaute mich beifällig an.
«Nein, nein, meine Liebe, es ist nicht so. Wir Iraker sagen der Zug und meinen die Zeit», antwortete er nachdenklich und ging in sein Zimmer.
Bis nach Basel beschäftigte mich Beyan und wie er mit Zeichnen Distanz von seinem Leiden schaffte. «Glücklichsein liegt in dir und wird nie von außen kommen. Die alten Ägypter glaubten, wenn der Mensch stirbt und seine Seele zur Tür des Himmels aufsteigt, werden ihm von Engeln zwei Fragen gestellt. Warst du glücklich in deinem Leben? Hast du andere Leute glücklich gemacht? Je nach Antwort erlauben sie ihm, für immer in das Königreich einzutreten oder zu flüchten», sagte Beyan.
Basel empfing mich mit leichtem Regen. Dennoch ging ich zu Fuß nach Hause. Auf dem Weg erinnerte ich mich an das blaue Heft. Auch daran, wie ich das Sprechen verlor, als würde meine Zunge mit einem Seil nach hinten gezogen, sodass ich keinen Ton herausbrachte. Im Irak ist es ein Tabu, zu dieser Art von Ärzten zu gehen. Ich aber war froh, als ich die Überweisung vom Arzt, den wir Asylsuchende besuchen durften, erhielt.
Im Wartezimmer des Psychiaters war ich nicht die einzige Jugendliche. Vielleicht die Einzige, die sich wunderte, dass alles in dieser Praxis glänzte, selbst der Psychiater. Sein samtiger Anzug, seine Schuhe, die Brille, ja selbst seine Glatze und der wertvoll aussehende Füller auf dem Tisch. Er begrüßte mich, gab mir seine Hand, führte mich ins Zimmer, bot mir einen Stuhl an und setzte sich mir gegenüber. Er schwieg, und ich war irritiert. Wer sollte nun wem helfen, wieder zu sprechen? Hinter ihm auf der Fensterbank waren kleine Tierfiguren und Schiffsmodelle. Sie allein glänzten nicht.
«Du bist hier, weil du Hilfe brauchst, die ich dir gerne anbieten möchte.»
Sein erster Satz erinnerte mich an eine Geschichte, die ich zuvor im Asylheim gelesen hatte. Darin begann ein Psychiater das Gespräch mit der Protagonistin immer damit, wie sie auf ihn wirkte. «Du siehst besorgt aus», «du hast nicht gut geschlafen» und so weiter. Sie hatte immer genickt, um ihm zu bestätigen, was er über sie dachte. Ich tat dasselbe, obwohl ich in dem Moment eigentlich nur noch wegwollte. Der Psychiater begann, sich auf meine Hände zu konzentrieren und vorsichtige Blicke zu werfen. «Vielleicht möchtest du mir etwas erzählen. Egal was», sagte er.
Ich war hilflos, verzweifelt und schwach. Ich zuckte mit den Schultern und schwieg.
«Dann nenn mir etwas, was du besonders magst. Oder etwas, was es wert wäre, gehört zu werden.»
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: «Du bist frei, du musst natürlich nicht.»
Ich wünschte mich nur weg von diesem glänzenden Ort.
Während zwei Monaten war ich einmal wöchentlich bei ihm in Therapie, danach immer unregelmäßiger. Er redete viel mit mir, um mich zum Sprechen zu bringen, und einmal flüsterte er mir leise ins Ohr: «Schreibe, wenn du nicht reden kannst. Oder zeichne auf, was dir Kummer macht. Schreiben ist kein Ersatz, aber es wird dir helfen.» Er gab mir ein Papier mit Fragen, die ich zur nächsten Sitzung beantworten sollte. Ich tat es nicht. Ich kaufte mir in Frauenfeld ein blaues Heft und begann, für mich zu schreiben, ohne den Zwang, das Geschriebene jemandem zeigen zu müssen.
Kleine Texte von ein paar Zeilen verstreuten sich im Heft. Es entstanden auch kurze Briefe an Nosche. Ich weiß nicht, ob Daniel das alles gesehen hat. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Auf einer Seite stand neben einer Zeichnung, dass ich mich am Tod von Nosche schuldig fühle. Hätte sie die Flucht aus dem Irak auch ohne mich gewagt? Wäre sie ohne mich gar nie gegangen?
Auf einer anderen Seite schrieb ich über meinen Vater, über das Versteckspiel, das wir immer mit ihm in der Wohnung machten. Wie seine Augen strahlten, wenn er uns suchte. Es war uns schon bewusst, dass er unser Versteck schnell finden konnte, er tat nur so. Dieses Spiel konnte er im realen Leben nicht spielen. Er wollte nichts übersehen, und manchmal warf er seine Worte gleichgültig um sich. Sie fielen in unsere Herzen und Ohren wie Feuerbälle.
Ich fing an, mehr in meinem blauen Heft als in meiner Trauer zu leben. Ein Schreibfluss durchströmte mein Leben und ließ mich vorwärts gehen. In mir keimte die Hoffnung, dass das Reden bald zurückkomme.
Nach etwa drei Monaten musste ich die Therapie beim Psychiater abbrechen, da diese nicht mehr genehmigt wurde und ich weitere Therapiestunden hätte selbst bezahlen müssen. Wie hätte ich das als Asylbewerberin gekonnt? Ich hatte ja meine Zunge wieder, meinten sie.
Im Herbst 2008 verließ ich die Praxis des Psychiaters und war eigentlich froh, die Behandlung nicht mehr weiterführen zu müssen. Ich fühlte mich reif genug, um zu begreifen, wo ich stand. Es würde nicht mehr lange gehen, bis ich aus diesem Zustand herauskam. Viele Wunder hatten mich in die Schweiz zurückgebracht. Jetzt musste ich die Verantwortung für mich selbst übernehmen, sagte ich mir.
Beyan unterstützte mich, indem er mir viel aus seinem Leben erzählte: Wie er im Irak gelebt hatte und wie ihm die Flucht bis in die Schweiz gelungen war.
Einmal machten wir eine Radtour von Frauenfeld nach Kreuzlingen und dann einen langen Spaziergang am See. In einem Restaurant in Kreuzlingen tranken wir Kaffee.
«Wollen wir hoch? Die tolle Aussicht vom Seeburgturm über den Bodensee ist unverzichtbar», sagte Beyan.
Katrin blieb unten, weil sie Höhenangst hatte. Beyan und ich stiegen die Treppen hoch. Eine wunderschöne Seelandschaft.
«Schau, viele Menschen haben auf der Holzbrüstung Namen und Botschaften in verschiedenen Sprachen hinterlassen. Möchtest du auch etwas schreiben?», sagte er und gab mir einen Bleistift. Er trat zwei Schritte zurück, und es war, als ob Nosche auch dabei wäre. Ich nahm den Stift und schrieb auf Arabisch: bayt, Haus.
Viel Zeit war vergangen, seit ich das letzte Mal in dieses Heft geschaut hatte. Ich wusste, dass es mich in Lebensabschnitte zurückführen würde, die ich nicht gerne mochte. Trotzdem ging ich in der Wohnung, ohne meine Schuhe auszuziehen, direkt ins Schlafzimmer und zu meinem Kleiderschrank, in dem sich eine kleine Truhe befand. Ich zog das Heft hervor, setzte mich auf den Rand des Bettes und begann darin zu blättern. Mehrmals hatte ich Bienen gezeichnet, sie bringen Glück. Meine Mutter meinte, jede Biene würde eine Botschaft tragen, die zum Glück führe. «Bienen lügen nicht, betrügen nicht, und sie schaden niemandem. Wenn du eine Biene siehst, lache und denke an das Wunder, das sie tragen.»
Ich brachte das Heft an seinen Ort zurück und begann, Daniel eine SMS zu schreiben. «Wie geht’s dir? Habt ihr überhaupt ein Wochenende? Was hast du gearbeitet? Ich habe deine Postadresse gar nicht, ich wollte dir deinen E-Reader schicken. Ich war in Frauenfeld bei Beyan und Katrin, und meine Arbeit hier tue ich wie üblich. Es