Im Fallen lernt die Feder fliegen. Usama Al Shahmani

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Название Im Fallen lernt die Feder fliegen
Автор произведения Usama Al Shahmani
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552093



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mir die Liebe als ein schönes Denkmal vor. Eines von denen, die ich in Rom oft gesehen habe. So schön wäre es gar nicht, wenn es die Schläge des Hammers eines Bildhauers nicht ertragen hätte. Ich bin kein guter Ratgeber in der Liebe, aber woran ich fest glaube, ist, dass die Liebe oft sehr wenig mit Vernunft zu tun hat. Weißt du, Aida, kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz habe ich mich in eine Frau verliebt, die beim Arbeitsamt tätig war. Sie half mir sehr, einen Job zu finden. Ich füllte die Formulare entweder falsch oder unvollständig aus, damit ich länger bei ihr bleiben und ihre Augen betrachten durfte, während sie mir alles erklärte. In dieser Zeit begann ich die unerträgliche schweizerische Bürokratie zu lieben. Dank ihr konnte ich jede Woche vor meiner Geliebten stehen wie mein Kater vor mir, wenn ich aß.»

      «Selbst Kater!», sagte Katrin lachend.

      «Aber was ist denn bei euch los? Eure Liebe ist doch großartig! Möchtest du etwas erzählen?», fragte mich Beyan.

      «Die Streitereien zwischen uns häufen sich, weil Daniel einen unerträglichen Druck auf mich ausübt. Er will mehr über meine Vergangenheit, die Geschichte meiner Familie und alles, was mich in die Schweiz brachte, erfahren. Und das in einem Ton, der wie ein Ultimatum wirkt. Das hat er zwar nicht gesagt, aber weil er mir immer und immer wieder diese Fragen gestellt hat, fühlt es sich so an. Ich habe mir meine Zukunft immer mit ihm vorgestellt. Aber jetzt hat er auch aufgehört, auf meine Wünsche einzugehen, zum Beispiel nach einem gemeinsamen Kind. Er hat mir, als wir vor vier Jahren zusammenzogen, versprochen, dass wir es nach seinem Studium versuchen werden. Aber jetzt hat er seinen Master gemacht und denkt nur an seinen Zivildienst und seinen Beruf. Ich bin verzwei­felt.»

      «Verzweiflung ist handgemacht», schob Beyan ein.

      «Was habe ich denn gemacht?»

      «Ganz am Anfang habe ich dir schon gesagt, dass Schweigen kein Panzerglas ist. Themen, die sich in Schweigen hüllen, werden immer attraktiver. Du solltest versuchen, ihm zu erzählen, wieso du es nicht kannst.»

      «Nur daran zu denken, lässt das Entsetzen in mir hochsteigen. Wie kann ich die Unsicherheit, die seit den vielen Jahren des Schweigens in mir nistet, besiegen? Ich habe jahrelang an mir gearbeitet, um das ganze Gefäß richtig zu schleifen und irgendwo in mir verschlossen zu halten. Es fällt mir nicht leicht, es wieder zu berühren. Ich lebe mein jetziges Leben. Ich kann die Zukunft nicht mit der Tinte der Vergangenheit schreiben.»

      «Ja, es ist nicht einfach, darüber zu sprechen. Aber weißt du, Schweigen ist manchmal gefährlicher als Reden, und die Liebe lebt vom Reden. Sie hat eine Lunge, und diese kann nicht ohne einen ehrlichen Mund atmen.»

      Ich schwieg.

      «Ja, du erklärst ihm alles. Daniel liebt dich, und er wird verstehen, warum du bis jetzt nichts erzählen konntest. Und er wird es schätzen, dass du dich ihm anvertraust», unterbrach Katrin die Stille.

      «Seit wir in dieser neuen Wohnung in Basel wohnen, wurde der Druck noch größer. Ich weiß nicht, wieso ihm das so wichtig geworden ist. Ich fürchte, er hat beim Umzug mein blaues Heft gesehen.»

      «Was für ein blaues Heft?», fragte Katrin.

      «In diesem Heft habe ich damals Tagebuch geführt. Das war in der Zeit, als ich nach Nosches Tod kein Wort über die Lippen brachte. Mein Psychiater schlug mir vor, das aufzuschreiben, was ich nicht aussprechen könne. Ich habe auf Arabisch, Deutsch und manchmal auch auf Persisch geschrieben oder gewisse Dinge ge­­zeichnet.»

      «Hast du auch über die Flucht geschrieben?»

      «Nein, und ich habe keine chronologische oder vollständige Geschichte niedergeschrieben, oft nur Stichworte, manchmal kleine Texte oder Dinge notiert, die ich dem Psychiater mitteilen wollte.»

      «Ja, ich erinnere mich gut an diese schwierige Zeit. Du hast es erstaunlich gut überwunden», sagte Beyan und machte eine anerkennende Kopfbewegung.

      «Ich weiß nicht, ob ich es hinter mich gebracht habe. Ich will einfach nicht stehen bleiben, auch wenn die Richtung nicht immer klar ist. Jetzt will Daniel, dass ich zu einem Punkt zurückkehre, von dem ich mich befreien will. Ich verstehe nicht, warum er die Gegenwart an die Wand der Vergangenheit nageln will?»

      «Ich kann dich gut verstehen, bin aber nicht der Meinung, dass eure Liebe daran scheitern soll», sagte Katrin.

      «Weißt du, Aida, ich glaube, der Mensch muss jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, nutzen, um besser leben zu können. Besser heißt nicht unbedingt immer glücklich. Ich habe viel Schlimmes im Irak erlebt. Ich konnte vor dem Krieg fliehen, aber er will nicht von mir ablassen. Ich spüre ihn manchmal und sehe sein Ge­­sicht. Ein Gesicht mit vielen Augen, die mich durchdringend anstarren. Immer, wenn ein Auge einschläft, wacht ein anderes auf. Mit der Zeit habe ich mir beigebracht, den Blicken auszuweichen. Zeichnen hat mir sehr geholfen, du wirst es mir nicht glauben, es hat vieles in mir rhythmisiert, und ich weiß jetzt auch, wie ich mit dem größten Trauma in meinem Leben, dem Krieg und der Flucht und dem Leben in der Fremde, umgehen kann.»

      Ich erwiderte nichts und versank in meinen Gedan­ken. Wieso scheiterte ich immer wieder, meinen Eltern ganz zu verzeihen? Mir war einiges klar, aber warum sie in die Schweiz flüchteten, obwohl sie kein Interesse an diesem Land hatten, verstand ich nicht. Ich fand immer neue Antworten, aber die Frage blieb. Als blickte ich bei Regen durch eine Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer klären kurz die Sicht, doch das Wetter ändert sich trotzdem nicht. Ich war zufrieden mit dem, was ich in der Schweiz erreicht hatte. Ich schätzte die Freiheit und das Leben und mochte meine Arbeit. Das Vakuum, das Nosches Tod in mir verursacht hatte, konnte ich mit Hoffnung füllen.

      Katrin bemerkte, dass ich geistesabwesend war und dem Gespräch auswich. Sie schaute mir in die Augen und lächelte freundlich. Ich betrachtete ihr Haar im Sonnenschein. Es war grauer geworden, dennoch er­­innerte es mich an ihr Haar, als sie noch neben mir am Computer saß, um meine Französischhausaufgaben zu korrigieren. Damals hatte das Blond noch die Überhand.

      «Die Zeit zerrinnt rasch, wir müssen darauf achten, sie wahrzunehmen, bevor sie verschwindet», sagte mir Daniel an meinem letzten Geburtstag. Wie recht er hatte. Als Teenager in Frauenfeld schnitt ich mit meiner Schwester Bilder aus Zeitschriften aus. Meistens waren es irgendwelche Stars. Dass wir in den Irak zurückgehen würden, wäre uns nicht im Traum eingefallen. Wir klebten die Bilder in ein Heft, der Geruch des Leims hängt mir noch immer in der Nase. Ich höre das Lachen meiner Schwester und unsere Diskussionen darüber, welchen Star wir einmal heiraten würden, als säße sie noch immer neben mir. Die Trauer um meine Schwester bleibt in mir, auch wenn sie stillzustehen scheint wie die Wanduhr im Elternhaus im Irak. Aber jeden Tag kommt ein Augenblick, in dem die tatsächliche Zeit mit derjenigen auf dem Zifferblatt übereinstimmt.

      Katrin und Beyan begleiteten mich bis zum Bahnhof. Bevor ich in den Zug stieg, gab mir Katrin einen kleinen Umschlag. «Öffne ihn, wenn du im Zug sitzt», sagte sie mir, während sie mich zum Abschied umarmte.

      «Komm bald wieder, sonst wird Onkel Beyan böse auf dich», sagte er mit einem wehmütigen Lächeln im Gesicht.

      «Aber natürlich», erwiderte ich.

      Im Umschlag war ein Bild von Nosche und mir. Beyan hatte es im Wald geschossen, als wir 2008 den 44. Ge­­burts­­­tag von Katrin feierten. «Schnapszahl», sagte Beyan. Ich wusste nicht, was das bedeutet, aber wir haben auf jeden Fall bis um Mitternacht gefeiert. Neben Essen und Trinken hatte Beyan viele Spielsachen mitgebracht. Eines davon war «Wikingerschach», das ich immer noch gerne spiele. Beyan hatte bei unserem Flüchtlingsheimleiter die Erlaubnis eingeholt, dass Nosche und ich das Wochenende außerhalb des Heimes verbringen durften. Das Heim lag nicht weit von der Wohnung, in der wir als Kinder mit den Eltern als an­­erkannte Flüchtlinge lebten.

      Nosche stand neben mir, strahlend vor Freude und voller Leben. Ihr Lachen wirkte, als wollte sie mir durch dieses Bild aus der Vergangenheit etwas mitteilen.

      Wir sahen uns sehr ähnlich. Unser schwarzes, ge­­locktes Haar hatten wir von unserem Vater geerbt, die kleinen Augen von der Mutter.

      «Euer Lachen habt ihr vom Euphrat erhalten», be­­hauptete Vater immer.

      An