Im Fallen lernt die Feder fliegen. Usama Al Shahmani

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Название Im Fallen lernt die Feder fliegen
Автор произведения Usama Al Shahmani
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552093



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aus moralischen Gründen wollte er nicht zur Armee. Er mochte keine Waffe tragen.

      Nach der pädagogischen Maturitätsschule hatte er sechs Monate Zivildienst in der Kantonsbibliothek Frauenfeld, in einem Altersheim in Kreuzlingen und im Kantonsspital Münsterlingen geleistet. Und jetzt nach seinem Ethnologiestudium in Basel musste er die letzten vier Monate ableisten. «Weil ich mehr vom Leben in den Bergen erfahren und Zeit zum Lesen haben möchte. Es ist jetzt zu spät, darüber zu diskutieren», sagte er genervt zu seiner Mutter.

      «Ich weiß nicht, wie lange mich meine Mutter noch wie ein kleines Kind behandeln will.» Er legte sein Telefon auf den Tisch.

      So eine fürsorgliche Mutter hätte ich gerne gehabt. Auch mein Vater war ein belehrender Erzähler und ein schlechter Zuhörer. Ich erinnere mich gut daran, wie er sich ärgerte, weil wir einen Text von ihm gelesen hatten und mehr darüber wissen wollten, ein Satz, der auf der Rückseite einer Fotografie stand, die ihn an einem Fluss zeigte. «Ich habe euch nicht Arabisch beigebracht, damit ihr mich ausspioniert!» Er hatte geschrieben: «Es geht mir nirgendwo gut außer neben dir, du Euphrat. Ich wünschte mir, ich wäre ein Olivenbaum, der von dir bewässert wird.»

      Daniels Vater ist ganz anders, er ist lieber Zuhörer als Redner. Er ist ein erfolgreicher Architekt. Das ge­­mein­­­same Haus, das er selbst entworfen hat, schenkte er bei der Scheidung Angela. Er lernte eine Spanierin kennen und lebt mit ihr in Spanien, hat aber sein Büro in Kreuzlingen bis heute nicht aufgegeben.

      Daniel hat viel von seinem Vater geerbt. Wenn er lacht, senkt er den Kopf zwischen die Schultern und sieht wie eine Eidechse aus. Doch beim letzten Abendessen vor seiner Reise gab es nichts zu lachen, stumm packten wir seinen Koffer. Vom Fenster unseres Schlafzimmers sahen wir den Mond mitten in der Finsternis wie einen Hafen der Hoffnung im dunklen Meer.

      Nachdem alle wesentlichen Sachen, auch Daniels dicke Bücher, gepackt waren, saßen wir zusammen am Tisch und schlürften Tee.

      Schließlich redeten wir über seine Arbeit auf dem Bauernhof: «Über den Winter wird auf diesem Hof viel gearbeitet, weil die junge Familie selbständiger wohnen will als in einer kleinen Wohnung im alten Elternhaus. Und die alte Wohnung, aus der sie ausziehen werden, wollen sie renovieren und als Ferienwohnung vermie­ten.» Er zeigte mir den Ort auf Google Maps. «Schau, Thalkirch liegt etwa tausendsiebenhundert Meter über dem Meer; ein schöner und ruhiger Ort im Safiental.»

      Ich fragte, ob es möglich sei, Post dorthin zu schicken.

      «Ja, ich glaube schon, es gibt ein Postauto, das von Ilanz hochfährt. Es sei denn, die Straßen sind wegen Lawinengefahr gesperrt.»

      «Und Telefon?»

      «Ich weiß es nicht, ich lasse mich überraschen.»

      Wir schwiegen noch eine Weile, bis er sagte, dass er früh ins Bett müsse.

      «Ja, du hast morgen eine lange Reise», entgegnete ich.

      «Gute Nacht», sagte er und gab mir einen kalten Kuss.

      Ich räumte den Tisch ab und bemerkte seinen Ro­­man. Hatte er ihn mit Absicht auf dem Tisch liegenlas­sen?

      Ich zog meine Joggingkleider an, um meine Strecke bis ans Rheinufer zu laufen. Meistens habe ich meine Kopfhörer im Ohr, dieses Mal nicht. Ich war beunruhigt, Daniels Worte beschäftigten meine Gedanken und füllten meine Ohren. Und sie riefen die Stimme meines Vaters in Erinnerung, die oft unerwartet kommt wie ein Fisch, der aus dem Wasser springt.

      Mein Vater heißt Mansur Al Gamali. Er wurde 1959 in Abu Rajat im Irak geboren und stammt aus einer reichen, angesehenen Familie. Er studierte Religionswissenschaft in Bagdad. 1985, einen Monat nach seinem Abschluss an der Universtität, wurde er vom Geheimdienst aus dem Haus geholt, weil er im Verdacht stand, sich politisch gegen das Regime zu engagieren. Aus Mangel an Beweisen wurde er nach einem Jahr entlas­sen. Er zog als Soldat in den Krieg zwischen Iran und Irak, erlebte zwei Jahre lang Gräuel, Hunger und Durst an den Fronten im Süden und Norden des Landes. Nach dem Ende des Kriegs im November 1988 wurde er aus der Armee entlassen. Er fand eine Arbeit als Theologielehrer in Nadschaf und blieb dort bis zu seiner Flucht aus dem Dorf. Meine Mutter Delal Schenschul wurde im Jahr 1963 im selben Dorf wie mein Vater geboren. «Es liegt hundertsechzig Kilometer südwestlich von Bagdad und ist wie eine Oase von Dattelpalmen und Olivenbäumen umgeben», pflegte es mein Vater zu beschrei­ben.

      Wenn er über den Irak sprach, waren seine Worte wie ein heftiger Wind, der sich plötzlich beruhigt und sich anfühlt, als würde er ein Boot sanft vorantreiben. Aber dann wütete er wieder und zerstörte alles wie ein Wirbelsturm, der sich nimmt, was er will. «Der Krieg hat in unserer Sprache seine Narben hinterlassen», sagte er einmal über den irakischen Dialekt.

      Auch wenn der Krieg zu Ende ging, er trug ihn weiter in sich. Er erzählte nicht viel davon, ein paar Fragmente, mehr nicht. «Ich war im Kino, es war ein Kriegsfilm aus dem Iran. Mitten im Film musste ich den Saal verlassen. In einer Szene versuchte sich ein Soldat von der Front zu retten. Er rannte um sein Leben, und jedes Mal, wenn er stolperte, schmerzte mein Fuß.»

      Von seiner Angst vor dem Wasser erfuhren wir zu­­fällig, dass sie mit dem Krieg verbunden war: «Im Fe­bruar 1987 fand östlich von Basra die heftigste Schlacht während des Iran-Irak-Kriegs statt. Saddam Hussein nannte ihn ‹die größte Ernte›, der Iran ‹Operation Karbala›, während er im Volksmund als die Schlacht am Fluss Jassim bekannt war. Ich war Infanterist. Ich musste den Fluss überqueren. Das Wasser war rot gefärbt, und immer wieder musste ich Leichen von mir wegschieben, um mir einen Weg ans andere Ufer bahnen zu können. Es war wie ein schreckliches Märchen. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, dachte ich mir, auch ich sei eine Leiche, mit dem Unterschied, dass ich mich noch bewegen konnte. Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe. In dieser Schlacht wurde ein enger Freund von mir getötet. Sie hatten ihn für einen speziellen Auftrag ausgesucht. Es war ein kalter Morgen, als er mich zum letzten Mal umarmte. Mitten in der Kälte spürte ich seine warmen Tränen auf meinem Gesicht.»

      Bei der Vorstellung, dass ein Fluss Leichen ausspuckte, war mir der Rhein nicht mehr geheuer, und ich kehrte um.

      Als ich zurückkam, versteckte sich das Gesicht des Mondes hinter einer Wolke. Auch Daniel schlief schon. Ich aber konnte nicht einschlafen und war wie ein Jäger, der ausharrt und nicht weiß, ob er an der richtigen Stelle lauert. Die Stunden verstrichen. Meine Mutter fiel mir ein, wie sie damals in Frauenfeld auf der Schwelle zur Küche saß. Auf ihrem Schoß hielt sie ein Tablett voller Weizenkörner. Sie bewegte das Tablett geschickt in ihren Händen und entfernte da und dort ein Korn. Als meine Schwester und ich sie fragten, wieso sie gerade diese Körner entferne, da wir keinen Unterschied in Farbe und Form erkennen konnten, antwortete sie: «Egal, wie lange man diese Körner einweicht, sie bleiben hart und würden das ganze Gericht verderben.»

      Gegen Morgen stand ich schließlich auf und ging zum Bücherregal. Ich beschloss, jeden Tag einen Text in dem arabischen Gedichtband, den ich auf einem Flohmarkt in Basel gefunden hatte, zu lesen. «Versuch, den Tag mit Poesie zu beginnen! Glaub mir, es wird deinen Tag beeinflussen», hatte mir eine Arbeitskol­legin gesagt.

      «Es geschah an einem regnerischen Tag, dass ein Schüler der Dorfschule zum Fenster seiner Klasse hin­ausschaute und die Sonne und einen Fluss in sein Notizbuch zeichnete. Dann schrieb er Wörter darunter und steckte sein Notizbuch wieder in seine Mappe zurück. Als die Sonne untergegangen war, wunderten sich die Bewohner über das rätselhafte Licht, das von einer der Hütten ausging. Das Licht strebte auf den Dorfhimmel zu. Es enthüllte Wörter, die in einer kindlichen Schrift geschrieben waren, und ein Boot, das Richtung Sonne segelte.»

      Ich schlug das Buch zu, ging zum Fenster und öffnete es. Die herbstliche Morgensonne warf sich auf den Baum des Nachbarn und ließ die gelbe Farbe vor meinen Augen explodieren. Alles war rein und deutlich. Abgesehen von ein paar kleinen Wolken, die sich über den Himmel verstreuten, gab es keine Ablenkung.

      Am Bahnhof Basel warteten wir auf Daniels Zug. Eine Verspätung von zwölf Minuten wurde angekündigt. Wir standen nebeneinander. Ich berührte seine Hand, er drückte meine und sagte: «Ich liebe dich.»

      «Ich dich auch», entgegnete ich und gab ihm