Im Fallen lernt die Feder fliegen. Usama Al Shahmani

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Название Im Fallen lernt die Feder fliegen
Автор произведения Usama Al Shahmani
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552093



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der Zug in den Bahnhof einfuhr, merkte ich, dass die Zeit zu schnell zu verrinnen begann, und ich blickte auf die Schienen, die von dem einfahrenden Zug verschluckt wurden. Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben läge auf dieser kürzer werdenden Strecke, leichte Panik ergriff mich.

      Vor der Zugtür umarmten wir uns. Auf dem Perron dachte ich an das Tablett meiner Mutter. An die Körner, die ich aus meinem Leben entfernen müsste. Ich blickte dem wegfahrenden Zug nach, bis er verschwunden war, dann ging ich nach Haus.

      Bruchholz

      Ich habe arabische Musik gehört, doch nach einer ge­­wissen Zeit musste ich sie abstellen. Auch die Filmkomödie, die ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, brachte ich nicht zu Ende. Drei Tage sind vergan­gen, seit Daniel abgereist ist. Die Wohnung fühlt sich fremd an ohne ihn. Alles scheint seltsam und distanziert, sogar mein Lieblingsstuhl, auf dem ich immer lese. Ich bin einsam wie ein Stein, der von der Decke einer dunklen Bühne fällt.

      Auch meine Bücher helfen mir dieses Mal nicht. Das Lesen als Rettungsring habe ich früh entdeckt. Meine Mutter hatte nur erstaunt zugesehen, wie ich mich über die Bücher beugte und eins nach dem anderen verschlang. Damals vor allem Jugendromane, aber ich las alles, was mir unter die Augen kam, ich vertiefte mich so auch in die deutsche Sprache. Mein Vater ärgerte sich, wenn meine Schwester und ich mit einem Gemisch aus Deutsch und Arabisch untereinander sprachen. «Ihr müsst richtig Arabisch reden und nicht ständig in dieser Sprache palavern.»

      Ich liebe es mehr, auf Arabisch zu schreiben als zu lesen. Wenn ich den Kugelschreiber von rechts nach links gleiten lasse, versuche ich, den Buchstaben viel Raum anzubieten auf dem weiten Papier. Mein Vater hatte uns viel von der Kunst der arabischen Kalligrafie beigebracht. Er hatte kleine Texte und Gedichte ge­­zeichnet. «Jedes Mal, wenn ich einen Text mit dem Wort watan, Heimat, schreibe, habe ich das Gefühl, dass der Euphrat mitten durch das Papier fließt. Der Euphrat bewässert die Buchstaben, reißt die traurigen Worte in seinem Strom mit und lässt die Verben leuchten wie das Spiegelbild der Sterne auf dem Fluss, wenn er zur Ruhe gekommen ist», schrieb er. Ich beobachtete ihn und las wie er. Einmal betrat mein Vater den Raum, als ich ge­­rade einem imaginären Publikum eine seiner Handschriften vorlas. Ich fühlte mich ertappt, und es war mir peinlich. Aber er lachte nur herzlich, weil er be­­merkt hatte, dass ich meine Kuscheltiere als Publikum versammelt hatte und ihnen das arabische Gedicht vortrug.

      Heute noch tue ich das manchmal. Ich sage laut Gedichte auf und stelle mir das Publikum dazu vor. Oder ich trage sie Bäumen vor oder Spielzeugen, welche die Kinder in einem Sandkasten vergessen haben, oder leeren Stühlen im Gruppenraum der Bibliothek oder Tieren auf einem Spaziergang. Hauptsache ein Publikum, das mich nie fragt, seit wann ich in der Schweiz bin oder wo meine Familie ist. Ein Publikum, das versteht, dass das Wort watan für mich trocken bleibt, egal wie viele Flüsse hindurchfließen. Beim Vortragen sehe ich das Gesicht meines Vaters vor meinen Augen.

      Gestern Abend habe ich diese alte Gewohnheit wieder aufgenommen. Ich habe meinen arabischen Ge­­dichtband hervorgeholt und darin gelesen. Aber auch hier fand ich keine Ruhe, ein Gefühl der Entfremdung hatte mich erfasst. Ich nahm mein Handy und schrieb Daniel eine SMS: «Lieber Daniel, ich hoffe, du bist gut angekommen. Danke für deine kurze Nachricht. Ich vermisse dich, doch das ist nicht das Einzige, was mich antreibt, dir jetzt zu schreiben. Deine Worte beschäfti­gen mich. Dass die Ehrlichkeit selten sei und dass eine Beziehung ohne diese es nicht wert sei, weiterzube­stehen. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin ehrlich. Was willst du denn von mir wissen? Die Vergangenheit schreit in meinem Kopf wie ein verletzter Wolf, jede Nähe zu ihm signalisiert mir Gefahr.»

      Doch anstatt «Senden» zu drücken, löschte ich die Nachricht wieder. Ich musste nach Frauenfeld, sagte ich mir und beschloss, Beyan und Katrin anzurufen. Ich brauchte jemanden, der mir zuhörte. Und wer konnte das sein außer Beyan?

      Beyan ist Künstler und Geigenspieler. Wie er sich kleidet, macht ihn auffällig, unübersehbar. Als Nosche und ich Kinder waren, wünschten wir, dass Beyan unser Vater wäre. Am Wochenende gingen wir oft abends in Begleitung von Vater zu ihm, und er unterstützte uns in Mathematik und Deutsch. Nach der Lektion erlaubte er uns, die Fotoalben in seiner Bibliothek anzuschauen. Geduldig beantwortete er alle unsere Fragen. Auch diejenigen, die mit seiner eigenen, wohl schmerzhaften Kindheit zu tun hatten.

      Beyan war 1980 geflohen, weil er nicht in den Krieg wollte. Ein paar Monate lebte er mit gefälschten Papieren in Bagdad, dann gab die Partei sein Todesurteil bekannt, und der militärische Geheimdienst begann, ihn zu suchen. Er tauchte unter und verließ bald den Irak. «Dank der mutigen Hilfe einer Verwandten gelang mir die Flucht. Ich glaube, ich war der erste irakische Flüchtling hier im Thurgau», erzählte uns Beyan.

      Er erzählte uns auch von Bagdad, von seiner Liebe zu Kunst und Musik, dass er studieren wollte, aber leider nicht zugelassen wurde, weil er kein Baath-Parteimitglied war. Er arbeitete als Straßenkünstler in alten Quartieren der immer moderner werdenden Stadt. Mit seinen Verwandten bastelte er Drachen aus buntem Papier, die er jeden Freitagmorgen im Vogelpark verkaufte. Damit schlug er sich durch.

      Wenn Beyan von Bagdad erzählte, sah er aus, als würde er von einer Geliebten sprechen. Beyan ist mutig; einmal mischte er sich ein, als mein Vater sich weigerte, Nosche und mich ins Winterlager in die Berge gehen zu lassen. Es war für uns beinahe ein Weltuntergang, weil wir die Einzigen in der Klasse waren, die zu Hause bleiben mussten. Erfolglos versuchte Beyan, unseren Vater zu überzeugen. Am Schluss sagte er zu meinem Vater: «Dein Festhalten an den irakischen Traditionen kann Schaden anrichten und die Zukunft deiner Kinder zerstören.» Dass Beyan sich auf die Seite unseres Klas­senlehrers schlug, hat mein Vater ihm nicht verziehen, und er beschränkte die Beziehung zu ihm auf das Nötigste. Wir waren enttäuscht, vor allem, weil die Wo­­chen­endbesuche abrupt aufgehört hatten. Die Distanz ­zwischen den beiden wurde noch größer, als Beyan mit seiner Schweizer Freundin Katrin zusammenzog.

      Beyan konnte die Beziehung zu Vater mit der Zeit wiederherstellen. Er besuchte uns, als Vater aus dem Spital zurückkam. Er musste sich einige Lymphknoten entfernen lassen. Vater schätzte seinen Besuch wenig und blieb zurückhaltend. «Ich will nicht, dass Katrin unser Leben von innen sieht. Wir kennen sie nicht. Wie­so sollten wir ihr vertrauen? Ich mag keine Fremden in meinem Haus.»

      Vater war immer auf Beyan angewiesen und hielt Respekt. Gleichzeitig war er jederzeit bereit, darauf zu verzichten. Ich hörte einmal unfreiwillig einen Dialog zwischen zwei Menschen im Zug. Ich weiß nicht, ob sie betrunken waren, es kam mir vor wie ein Theaterstück.

      Der eine schrie den anderen an: «Was? Hast du mir das geschrieben, weil ich Ausländer bin?»

      Der andere schwieg einige Sekunden und erwiderte dann gleichgültig: «Nein, ich hasse dich nicht, weder dich noch sonst jemanden auf dieser Welt. Doch gleichzeitig habe ich auch niemanden lieb. Das ist alles.»

      Oh mein Gott! Sprach diese Person jetzt von sich oder von meinem Vater? Vater hasste niemanden. Aber ich sah ihn nie jemanden lieben. «Wir kennen uns schon seit der Kindheit. Beyan ist der einzige Freund, der mir blieb. Viele Freunde sind wie die Splitter einer Rakete, einfach verstreut und versunken», sagte Vater.

      Die Freundschaft mit Beyan ist der Schatz, den mir mein Vater in der Schweiz vererbt hat.

      Eine SMS von Daniel weckte mich früh auf. Er schrieb begeistert, dass ihm das Leben auf dem Hof gefiel. «Es ist nichts los hier, das macht das Leben interessant, ich freue mich sehr. Kuss, Daniel.»

      Ich freute mich auf das Treffen mit Beyan und Katrin, sie hatten mich eingeladen, den Samstag bei ihnen zu verbringen.

      Auf dem Weg zum Bahnhof trank ich meinen Kaffee bei einer Frau aus dem Sudan. Sie führte ein kleines Café und war immer nett, trug bunte, afrikanische Oberteile und hatte ihre Haare zu Cornrows, der afrikanischen Flechtfrisur, geflochten. Wir sprachen hochara­bisch. «Hocharabisch sprechen ist komisch, es lässt Frauen männlich tönen», meinte Mutter. Diese Frau jedenfalls nicht.

      Im Zug begann ich, die Menschen zu beobachten, die auf dem Bahnsteig vorbeischlenderten, vor allem die Gesichter. Eigentlich mochte ich das Beobachten anderer Leute nicht, aber diese Gewohnheit verfolgt mich seit ein paar Jahren, als wäre ich auf der Suche nach einem