Название | Im Fallen lernt die Feder fliegen |
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Автор произведения | Usama Al Shahmani |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552093 |
Kurz vor Mittag kam ich in Frauenfeld an. Beyan schickte mir eine Nachricht: Er komme zehn Minuten zu spät. Die Sonne schien auf den Bahnhofplatz. Ich stand eine Weile vor dem Gleis der Wilerbahn. Wo blieb nur dieser alte, rote Zug? Offenbar hatten sie ihn durch einen modernen ersetzt? Ob noch immer ständig die Durchsage «Nächster Halt auf Verlangen» wiederholt wurde? Auf der Suche nach einer Lehrstelle fuhr ich eine Woche in ein Pflegeheim in Münchwilen. Mit diesem alten, roten Zug, der durch die Stadt fuhr und sowieso an jeder Haltestelle anhielt. Ich verstand nie, warum der Satz ständig durch die Lautsprecher schallte.
Ich mag Frauenfeld. Hier lebte ich manche Jahre. Einige Geschichten sind schön, andere eher traurig. In meinem Kopf gleichen sie herumliegendem Bruchholz, und doch gehören sie zu meinem Leben. Ich versuche, daraus ein kleines Boot zu bauen und damit zum Rhein zu segeln. «In jedem Trümmerhaufen finden sich Gegenstände, die man für einen Neuanfang brauchen kann», sagte Karima, meine Tante mütterlicherseits. Als der alte Nussbaum in ihrem Hof vom Blitz getroffen und gespalten wurde, beschloss sie, daraus eine Tür zu schreinern, um den Stall für die Tiere verschließen zu können.
Mein Blick wanderte über den Bahnhofplatz und folgte den Menschen mit ihren vollbeladenen Einkaufstaschen in den Stadtbus. Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich das, wonach ich suchte, nie finden würde. Niemals.
Beyan erschien in einem leuchtend gelben Hemd und einer Jeansjacke und winkte mir bereits aus der Ferne mit seinem natürlichen Lachen zu.
«Ahlan wa sahlan amo Aida – herzlich willkommen!», begrüßte er mich.
«Hoi, Onkel», rief ich, und er umarmte mich. Es sei in unserer Kultur unanständig, enge Freunde der Familie mit Namen zu nennen, hatte uns Vater eingeschärft.
«Wie geht es dir? Du hast besorgt gewirkt am Telefon.» Er umarmte mich von der Seite und hielt meine Schultern fest. «Ist alles in Ordnung? Hör zu, wenn du mir etwas unter vier Augen erzählen möchtest, kann ich Katrin mitteilen, dass wir erst in einer Stunde zu Hause eintreffen.»
«Es geht mir gerade nicht so gut. Aber darüber können wir auch zu dritt reden.»
«Pass auf – wir gehen zum Wochenmarkt. Magst du noch immer das Gemüse direkt bei den Bauern kaufen? So etwas habt ihr in Basel doch sicher auch, oder?»
«Ja, ja, das mag ich noch, wir waren grad letzten Samstag dort, nicht in Basel, sondern hinter der Grenze.»
«Wie geht es Daniel, was macht er jetzt?»
«Er ist letzten Sonntagmorgen nach Graubünden gereist für den Rest seines Zivildienstes. In letzter Zeit streiten wir uns ständig. Ich glaube, unsere Beziehung wird nicht mehr lange halten.»
An der Bushaltestelle begegneten wir einer älteren Dame, und Beyan hatte ein kurzes Gespräch mit ihr.
«Sie ist unsere Nachbarin, ihre Tochter lebt aus beruflichen Gründen jetzt im Ausland und hat Heimweh, sie wollte wissen, was das beste Mittel dagegen sei.»
«Und was hast du ihr geraten?»
«Ich kenne dieses Gefühl nicht, ich weiß nicht mehr, wie es ist.»
Zu Hause empfing uns Katrin warmherzig. Sie trug eine hellgrüne Bluse und einen schwarzen Rock. Ihre Haare waren zu einem «Pferdeschwanz» hochgebunden, so wie sie meine Mutter immer trug. Sie hatte dickes Haar, und wenn sie lachte, sah man sympathische Grübchen, und ihre blauen Augen lachten mit. Ganz selten nur sah ich sie geschminkt, ihre feinen Falten im Gesicht standen ihr gut, das Alter hat ihr mehr Schönheit geschenkt. «Ein persischer Teppich ist je älter, desto schöner», sagte man von schönen Frauen im Iran. Auch wie sie ihre Wohnung eingerichtet hat, gefällt mir, jedes einzelne Stück vermittelt Stabilität in ihrem Haus, das sie von ihren Eltern geerbt hatte.
Katrin erzählt nicht viel von ihrer Familie, aber einmal erzählte sie, dass ihr Großvater Russe war. Er war als Kunsthändler in die Schweiz gekommen. In St. Gallen habe er ihre Großmutter kennengelernt. Irgendwann war er dann zurückgekehrt nach Russland. «Das Einzige, was von ihm geblieben ist, war ein Kind, das mein Vater wurde und die Liebe zu Kunst und Antiquitäten im Blut hatte.» Vielleicht hatte sie selbst deswegen Kunst und Musik studiert.
«Wie geht es dir, meine Süße? Fast ein halbes Jahr haben wir uns nicht gesehen.»
Katrin umarmte mich.
«Ja, es ist lange her, ich vermisse euch und bin froh, jetzt hier zu sein.»
Wir gingen direkt in die Küche, sie hatten Biryani gekocht, ein irakisches Gericht. Beyan meinte, er habe das Gericht ein bisschen modernisiert. Reis mit verschiedenen Gemüsesorten, Kardamom, Pistazien und irakischen Gewürzen, die er aus Bagdad geschenkt bekommen hatte. Die Joghurtsauce war mit Minze, Thymian und Koriander garniert.
«Biryani bringt Wärme, auch in der Liebe», sagte Beyan und gab Katrin einen Kuss.
«Die meisten Iraner kochen es zum Nouruz-Fest. Sie meinen, dass genau diese Mischung zum Frühling passt», sagte ich.
«Ja, das stimmt», antwortete Beyan. «Nouruz war in der alten mesopotamischen Kultur der Tag, an dem Gott Tammus geboren wird und Ischtar, die Göttin der Erde, heiratet, die dann den Frühling gebären wird. An diesem Fest wurden die Unterschiede zwischen Sklaven und Herren vorübergehend aufgehoben. Der König von Babylon gibt seinen Stolz auf, erkennt seine Fehler an und erhält eine Ohrfeige von der höchsten religiösen Autorität. Es gibt sumerische Platten, die den großen Marsch im Park des Königs zeigen, bei dem im Feuer farbige Puppen verbrannt wurden. Diese Puppen sollen den Winter repräsentieren.»
«Wie das Sechseläuten in Zürich», unterbrach Katrin lachend, «aber der Böögg hat sicher nichts mit Babylon zu tun».
«Ich weiß es nicht, aber nach der Besetzung Babylons durch die Perser wurde Naurus ein Fest in vielen Kulturen. Die Perser feierten dreizehn Tage lang, wer dieses Fest feiert, wird das ganze Jahr von Sonnenschein begleitet, sagen sie. Bei den Kurden heißt es Newroz», sagte Beyan.
«Hast du noch Erinnerungen an den Iran? Hat deine Familie dort dieses Fest gefeiert?», fragte mich Katrin und hakte gleich nach: «Wie lange habt ihr eigentlich in Ghom gelebt?»
«Ich bin ja in Ghom geboren und habe bis zu meinem sechsten Lebensjahr im Iran gelebt. Meine Erinnerungen daran sind etwas verblasst. Aber manche Bilder sind noch sehr präsent, und eines davon ist eben Nouruz. Wir feierten es mit einem irakischen Nachbarn. Es begann immer mit einem gründlichen Hausputz, dann bereitete meine Mutter ein großes Tablett vor. Man nennt es ‹Tablett der sieben S›. Alle sieben Dinge darauf beginnen auf Persisch mit dem Buchstaben S.»
«Wieso S?», fragte Beyan.
«Weil dieser Buchstabe in der persischen Kultur Liebe und Glück bringen soll. Auf dem Tablet soll sebse, also Spinat, in eine Art Vase gestellt werden und dazu semnou, eine Süßigkeit aus Weizen und Honig. Sier ist Knoblauch, was in diesem Glauben das Böse vertreibt und die Stärke fördert. Serke ist Essig, als Symbol der Geduld, senged sind Blätter der Linde, Symbol der Liebe, soummak sind Gewürze als Symbol für Wasser, damit das Jahr reich an Niederschlag ist. Das Letzte ist syeb, der Apfel, als Symbol für Fruchtbarkeit. Meine Mutter hatte dieses Tablett immer in die Mitte des Wohnzimmers gestellt, und daneben las Vater sieben Verse aus dem Koran vor, die alle mit dem Wort salam begannen. Am letzten Tag nahm uns Vater mit zu einem Park, in dem sich viele Familien versammelten und picknickten. Meine Schwester und ich gaben an diesem Ort unsere Münze aus, die wir zu diesem Anlass geschenkt bekommen hatten.»
«Was für ein schönes Fest. Du kennst alle diese Gebräuche und führst sie nicht weiter?», fragte mich Katrin.
«Na ja, wir haben jetzt Herbst», entgegnete Beyan lachend.
«Ja, vielleicht müsste ich das wirklich machen. Wer weiß, vielleicht helfen die Blätter der Linde der Liebe zwischen