Ryloven. Manuel Tschmelak

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Название Ryloven
Автор произведения Manuel Tschmelak
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076872



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von ihm standen und sich noch kein bisschen bewegt hatten. Keron stand einfach nur erstaunt da und Will blickte mit offenem Mund zwischen den Pfeilen in den Bäumen und Nicolas hin und her.

      „Na los. Jetzt seid ihr an der Reihe. Nehmt einen Pfeil aus dem Köcher und legt ihn an“, forderte Nicolas sie auf und zeigte ihnen die richtige Haltung, indem er es ihnen vormachte.

      Will schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sollen wir können?“, fragte er etwas zweifelnd. „Das ist doch Wahnsinn. Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.“

      Nicolas verstand endlich, was in seinen Schülern vorging. „Natürlich nicht heute, aber mit viel Übung werdet ihr es irgendwann ebenfalls können. Nicht morgen und auch nicht in einer Woche oder einem Monat. Um diese Geschwindigkeit zu erlangen, braucht es viel Übung und Training. Aber ja, ihr werdet es können.“ Will und Keron wirkten nicht überzeugt und Nicolas wurde langsam ungehalten. „Ich habe euch als meine Schüler angenommen und seid versichert, dass ich es nicht getan hätte, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass ihr dazu fähig seid. Doch gut, wenn ihr nicht wollt, dann können wir auch gleich abbrechen“, sagte er wütend und machte Anstalten zu gehen, indem er sich von ihnen abwandte. Nicolas’ Zorn weckte Keron aus seinen Gedanken und eine ungewöhnliche Entschlossenheit breitete sich in ihm aus.

      „Warte. Ich werde es versuchen.“ Keron stellte sich dorthin, wo Nicolas vorher gestanden hatte und nahm einen Pfeil aus seinem Köcher. Er legte ihn an und spannte die Sehne. Zu seiner Überraschung war es gar nicht so einfach, die Sehne ganz nach hinten zu ziehen. Aber ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Es fühlte sich an, als hätte er sein ganzes Leben nur darauf gewartet, einen Bogen zu spannen. Es war ein unglaubliches Glücksgefühl. In diesem Moment erinnerte er sich daran, als Will das Gefühl beschrieben hatte, welches er empfunden hatte, während er das erste Mal seinen Dolch in den Händen gehalten hatte. Keron zielte. In dem Moment, in dem er den Baum in der Mitte, der am nächsten zu ihm stand, im Visier hatte, ließ er den Pfeil los. Die Sehne schnellte zurück und der Pfeil schoss davon. Er schaute ihm nach, aber er verfehlte sein Ziel. Doch Keron war ganz und gar nicht entmutigt. Er ließ den Bogen sinken und Will begann lauthals zu lachen. „Na, das war aber ein Volltreffer!“, brachte er zwischen seinem Gelächter hervor. Keron lächelte ebenfalls, nahm allerdings sonst keine Notiz von seinem Freund, der sich über ihn lustig machte. Er starrte mit Begeisterung auf seinen Bogen, nahm gleich einen neuen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn an. „Dieses Mal werde ich treffen.“ Er spannte die Sehne, zielte und schoss. Keron wusste schon beim Loslassen, dass er den Baum dieses Mal treffen würde und schaute dem Pfeil nach, wie seine Spitze mit einem leisen Geräusch in den Holzstamm eindrang. Sein Pfeil war gut einen Meter unter dem von Nicolas, aber er fühlte sich, als hätte er nie etwas Besseres in seinem Leben vollbracht. Erst jetzt merkte er, dass Wills Gelächter verstummt war, er auf seinen Pfeil starrte und Nicolas anerkennend in die Hände klatschte. Nach Kerons geglücktem Versuch erwachte Wills Ehrgeiz und er versuchte ebenfalls einen der Bäume zu treffen, allerdings verfehlte sein erster Versuch das Ziel und auch sein zweiter Pfeil landete gut zwei Meter neben dem Baum, den er eigentlich treffen wollte. Nach den vielen Niederlagen, die Keron gegen Will im Schleichen hinnehmen musste, war es ein Gefühl der Genugtuung für Keron, dass er in etwas besser war als sein Freund. Doch tief im Inneren befürchtete ein Teil von ihm, dass Will es nicht gut finden würde, dass Keron besser war. Bis jetzt war Will ihm sowohl beim Schwertkampf als auch im Schleichen etwas voraus. Er wusste nicht, was für Auswirkungen es auf ihre Freundschaft haben würde, wenn er nun in etwas besser war als Will. Doch Keron fand bald heraus, dass seine Sorgen unbegründet waren. Nachdem die beiden ihre sechs Pfeile verschossen hatten und Will noch immer keinen Baum getroffen hatte, mussten sie ihre Pfeile wieder aufsammeln. Keron hatte mit seinen nächsten beiden Schüssen wieder nicht getroffen, aber die letzten zwei Pfeile blieben im Holz stecken. Es dauerte nicht lange und ihre Pfeile befanden sich wieder sicher in ihren Köchern.

      „Wie stellst du es an, dass du die Bäume triffst“, fragte Will Keron, während sie zu Nicolas zurückgingen.

      „Hmmm … Ich bin nicht sicher, wie ich dir diese Frage beantworten soll. Du hast mir gestern erzählt, wie du dich gefühlt hast, als du das erste Mal diesen Dolch in den Händen gehalten hast und ich glaube, dass ich so etwas Ähnliches auch gespürt habe. Es fühlte sich einfach richtig an und ich ließ den Pfeil los. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

      „Nicht so ganz, aber es ist ja auch nicht so wichtig. Du wirst schon sehen. In höchstens einer Woche werde ich schon genauso gut sein wie du“, fügte Will hinzu und lächelte Keron schelmisch an, der das Lächeln herausfordernd erwiderte.

      Sie übten den ganzen Tag voller Begeisterung weiter, bis die Bäume, auf die sie zielten, schon lange Schatten warfen. Will und Keron kamen ein weiteres Mal vom Aufsammeln ihrer Pfeile zurück, als Nicolas ihnen mitteilte, dass sie zur Hütte zurückkehren. Die beiden schulterten ihre Bögen und trotteten erschöpft hinter Nicolas her. Erst jetzt merkte Keron, wie hungrig und müde er wirklich war und konnte das Abendessen kaum noch erwarten. Für den Rückweg brauchten sie bei weitem nicht so lange wie am Vormittag, weil sie schneller gingen und Nicolas ihnen beichtete, dass er sie eine Zeit lang im Kreis und dann in eine ganz andere Richtung geführt hatte, bevor er den Weg zur Lichtung einschlug. In Wirklichkeit dauerte es zu Fuß nur ungefähr eine halbe Stunde, um von der Hütte zur Lichtung zu gelangen. Doch sowohl Keron als auch Will waren viel zu müde, um sich über ihre überflüssig lange Jagd am Anfang des Tages zu beschweren. Bevor die beiden die Hütte betraten, wuschen sie ihre Hände und ihr Gesicht in dem kleinen Weiher. Das kühle Wasser fühlte sich einfach wundervoll auf ihren schmerzenden Armen an. Danach stürzten sie sich auf das Essen und, da Nicolas sie an diesem Abend vom Abwaschen der Teller im Weiher befreite, zogen sie sich in ihr Zimmer zurück und legten sich in ihre Betten.

      Es war noch nicht ganz dunkel geworden. Keron lag in seinem Bett und versuchte einzuschlafen. In Gedanken ging er die letzten Tage in seinem Kopf noch einmal durch, seit sie bei der Hütte angekommen waren. „Es waren die anstrengendsten Tage meines Lebens, aber habe ich mir nicht genau das gewünscht? Zu lernen, wie man kämpft, und neue Orte kennenzulernen? Nein, das ist nicht, was ich wollte, es ist noch besser, weil Will auch noch da ist, der mich anspornt und die Schmerzen des harten Trainings mit mir durchsteht. Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich einmal ein Reichsschütze werden könnte.“ Während Keron noch über seinen besten Schuss und dieses Gefühl, das er bei seinem ersten Treffer verspürt hatte, nachdachte, versank er langsam, ohne es recht zu merken, ins Reich des Schlafes.

      Die nächsten Tage verbrachten sie wie schon die Tage zuvor. Am Vormittag gingen sie zu der Lichtung und übten den Schwertkampf und das Bogenschießen und am Nachmittag machten sie verschiedene Dinge: Sie studierten weiterhin die Karten des Reiches, erledigten häusliche Pflichten, wie zum Beispiel das Säubern ihrer Zimmer, den Abwasch oder sie versorgten die Pferde. Außerdem begann Nicolas ihnen die Umgangsformen bei Hofe beizubringen. Seiner Meinung nach war es eines der wichtigsten Dinge, die sie bei ihm lernen würden, weil man immer wissen sollte, wem man gegenüberstand und wie man diese Person zu behandeln hatte. Keron auf der anderen Seite empfand es als todlangweilig, die Stammbäume der wichtigsten Familien von Ryloven auswendig zu lernen. Er hatte zwar schon einiges über die Verhaltensweisen bei Hofe von Sir Francis gelernt, aber er empfand die vielen verschiedenen Dinge, auf die man laut Nicolas achtgeben musste, verwirrend und viele waren in seinen Augen einfach unnötig. Keron wäre viel lieber auf der Lichtung gewesen und hätte weiter trainiert. Aber Will und Keron lernten eines ganz schnell. Umso mehr sich die beiden beschwerten, umso länger verbrachten sie damit Zeit, langweilige Verhaltensregeln und Stammbäume zu studieren.

      Ihre Muskeln schmerzten zwar immer noch jeden Abend, doch es war bei weitem nicht mehr so schlimm wie am Anfang ihrer Ausbildung. Das Merkwürdige war nur, dass Will auch in der Früh noch leichte Schmerzen hatte, wohingegen Keron am nächsten Morgen überhaupt keinen Schmerz mehr verspürte. Als Will ihn schon das zwanzigste Mal deswegen verfluchte, konnte Keron sich immer noch keinen Reim darauf machen, warum er sich so viel schneller als Will von den Strapazen erholte.

      Als Junge war er einmal vom Pferd gestürzt und hatte einen tiefen Schnitt am Unterarm davongetragen, aber am nächsten Tag konnte man nur noch eine feine Narbe erkennen. Ein anderes Mal war er schrecklich krank geworden und der Arzt, den