Wie ich den Sex erfand. Peter Probst

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Название Wie ich den Sex erfand
Автор произведения Peter Probst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144134



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im Jahr 1905 irgendetwas ausgefressen hatte, was in einem Klosterinternat zum Rauswurf führte. Meinen Eltern blieb gar keine andere Wahl, als mich, nachdem ich nun auch noch zum Vandalen geworden war, ins Internat zu stecken. Mein Vater brummte hinter seiner Zeitung wie ein gereizter alter Bär. Danach war es in unserem Esszimmer so still, dass ich meine Kommunionsuhr ticken hörte.

      Drei Tage lang geschah nichts. Wieso ließen meine Eltern mich so schmoren? Es war doch klar, dass einer, der als Vandale in der Zeitung gestanden hatte, nicht länger zu Hause leben durfte. Ich war so zermürbt, dass ich beinahe von mir aus vorgeschlagen hätte, nach St. Ottilien gebracht zu werden, da rief mein Vater mich in den Raum, der Arbeitszimmer hieß und den wir nur betreten durften, wenn die Lage sehr ernst war. Anders als der Arzneimittelkeller war das Arbeitszimmer konsequent abgeschlossen, wenn unser Vater nicht zu Hause war. Nicht mal meine Mutter besaß einen Schlüssel.

      »Weil er sich wegen seinem Verhau schämt«, sagte sie.

      Aber das war nicht der Grund. Zwar stapelte mein Vater auf seinem Schreibtisch, dem Cordsofa, zwei Stühlen und einem Sessel die Vertraulichen Mitteilungen aus Politik und Wirtschaft, die Deutsche Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur und Werbeprospekte mit Schnäppchenangeboten aller Art, aber doch nur, weil er immer auf dem neuesten Stand sein musste. Schließlich konnte der Warschauer Pakt, den er gern als »Warschauer Pack« bezeichnete, jederzeit angreifen. Es war verständlich, dass er angesichts der Bedrohungslage keine Zeit mit Aufräumen vergeuden wollte. Auch die Schnäppchen interessierten ihn weniger aus Sparsamkeit als aus politischen Gründen. Er musste doch für den Fall, dass der Dritte Weltkrieg ausbrach – was mehr als wahrscheinlich war –, vorsorgen. Deswegen waren die Regale im Vorratskeller immer gut gefüllt. Tante Afra, die Schwester meines Vaters, hatte für den Notfall sogar Soleier eingelegt. Das fand er allerdings altmodisch, wo es doch diese wunderbaren »Büchsen« gab, mit Ananas, Ravioli, Leberwurst, Bismarckhering und Hühnerragout.

      Er saß auf seinem Schreibtischstuhl, rollte ein Stück vor und zurück und wieder vor und blickte mich dabei mit unbewegter Miene an. Ich stand an der Tür und wartete auf die Urteilsverkündung. Weil er nichts sagte, schaute ich mich unauffällig um. Mein Blick schweifte von einem Ölbild mit einem Karwendel-Gipfel über Haufen mit ausgerissenen Zeitungsartikeln bis zu dem die ganze Wand einnehmenden Bücherregal.

      Plötzlich wusste ich, warum er sein Arbeitszimmer so streng bewachte. Hier, in einem tiefen Regalfach, das sonst immer hinter einer Klappe verborgen war, befand sich sein Allerheiligstes.

      Das Altarbild war dreigeteilt wie in unserer Kirche. Das Zentrum bildete ein vergrößertes, schwarz-weißes Foto. Es zeigte unsere Familie, kurz nachdem Sigi geboren und meine Mutter seltsam pausbäckig gewesen war. Links daneben hatte mein Vater ein Foto von sich aus dem Krieg aufgestellt. Er trug eine Uniform, die an Armen und Beinen viel zu kurz war, und blickte mit großem Ernst in die Kamera. Der rechte Altarflügel bestand aus einer Urkunde. Mein Vater war kurz nach meiner Geburt noch einmal für ein paar Jahre als Arzt zum Militär gegangen, hatte dort offenbar aber keine guten Erfahrungen gemacht. Jedenfalls wurde er sehr schweigsam, wenn man ihn nach dieser Zeit fragte. Auf den dritten Platz im Kleinkaliberschießen seiner Einheit war er dennoch stolz.

      Vor dem Altar standen eine Schnapsflasche und ein Glas mit einem Edelweiß drauf. Daneben lag eine Art Wurst aus speckigem Leder mit einer Schlaufe an einem Ende und einer Kugel am anderen. Ich ahnte, was das war. Mein Klassenkamerad Thomas hatte mal von seinem Großvater erzählt, der im Krieg einen Bosniaken mit einem einzigen Hieb getötet hatte – mit einem Totschläger. Während ich noch überlegte, was wohl ein Bosniake war und wen mein Vater totschlagen wollte, stieß er sich mit einem Fuß vom Schreibtisch ab und schoss mit seinem Stuhl auf mich zu. Auf halber Strecke bremste er ab, sprang auf, schlug die Klappe vor seinem Allerheiligsten zu und sagte: »Also …«

      Ich senkte den Blick. Bestimmt hatten sie meinen Umzug ins Internat schon organisiert. Dort würde ich bis zum Abitur eingesperrt bleiben, falls ich es bis zur dreizehnten Klasse schaffte. Anders als mein Opa Hammerl war ich ja nicht so strebsam, dafür aber wenigstens noch nicht wegen Unzucht aufgefallen.

      »Ich weiß von nichts«, sagte mein Vater und grinste seltsam schräg. »Deswegen ist das auch keine Belohnung.«

      Er hielt mir eine Papierrolle hin. Wahrscheinlich ein Poster von St. Ottilien, dachte ich, damit ich mich schon mal an den Anblick gewöhnen kann. Ich wollte das Gummiband abstreifen, doch mein Vater schob mich ungeduldig zur Tür. Er ertrug keine längeren Besuche in seinem Arbeitszimmer. Ich spähte durchs Schlüsselloch, sah aber nur seinen Schreibtisch. Zu gern hätte ich gewusst, ob er sich jetzt ein Gläschen genehmigte oder doch lieber mit dem Totschläger übte.

       7

      Ich kannte viele Fotos von ihm, aber das war mit Abstand das schönste. Er blickte einen so direkt und ehrlich an, dass kein vernünftiger Mensch an ihm zweifeln konnte. Er verheimlichte weder seine Kraft noch seine Zweifel. Ihm war bewusst, dass der Weg zur Verwirklichung seiner Pläne lang und steinig werden konnte. Deswegen hielt er den Mund streng geschlossen und zeigte nicht die Spur eines Lächelns. Seine Kleidung war zurückhaltend: dunkler Anzug, helles Hemd. Nur mit der Krawatte setzte er ein Zeichen. Sie war weiß-blau kariert, da war ich mir sicher, obwohl das Plakat bis auf die großen, goldenen Buchstaben CSU ganz in Schwarz-Weiß gehalten war. Weißblau, wie das bayerische Wappen und der Himmel über unserer Heimat.

      Ich hatte das Plakat mithilfe einer Stehleiter so an die Decke geheftet, dass er auf mich herabblickte, wenn ich im Bett lag. Den Satz neben seinem Gesicht musste ich immer wieder lesen. Entschlossen die Zukunft sichern. Er war der Einzige, dem das gelingen konnte und der vielleicht noch rechtzeitig verhinderte, dass mit den Roten alles den Bach runterging.

      Es war nicht so, dass ich zu ihm betete, das wäre ja Götzendienst gewesen. Aber ich fühlte mich von ihm beschützt. Solange Franz Josef Strauß über mich wachte, konnte mir nichts Schlimmes passieren. Wahrscheinlich würde ich nicht mal ins Internat kommen. Mein Vater jedenfalls wirkte sehr zufrieden, als er sah, was für einen schönen Platz ich für sein Geschenk gefunden hatte. Jetzt streichelte er mir wirklich über den Kopf, zog seine Hand aber ganz schnell zurück und wischte sie an der Hose ab.

      »Heute Nacht bleibst du daheim, gell? Und die nächsten Nächte auch. Ist besser, Peter.«

      So endete mein Wahlkampf. Zwei Wochen später gewannen Willi Lucke und Alfons Goppel haushoch. Ich hatte ihnen dabei geholfen – mit meinem Vandalismus, für den ich immer noch kein deutsches Wort kannte. Franz Josef Strauß schaute schon etwas zufriedener von der Decke herab. Jedenfalls kam es mir so vor.

      An meiner Schule war ich, obwohl ich als Vandale in der Zeitung gewesen war, weiter der Unauffällige. An manchen Tagen glaubte ich, ich hätte eine seltene Krankheit, die mich unsichtbar machte. Nur bei Hetti war es anders. Sie ließ mich nach wie vor nicht aus den Augen. Vermutlich wollte sie jederzeit zum Angriff bereit sein, falls ich unzüchtig wurde.

      Außer ihr kam kein anderes Mädchen auf den Gedanken, mir hinterherzuschauen oder gar das Wort an mich zu richten. Noch vor ein paar Wochen wäre das für mich, wie Thomas mit dem Totschläger-Opa zu sagen pflegte, »nicht kriegsentscheidend« gewesen. Auf einmal ärgerte es mich irgendwie. Das bedeutete nicht, dass ich auch mal mit einem Mädchen gehen wollte – ganz bestimmt nicht. Die beiden Klassenkameraden, die das neuerdings machten, kamen mir lächerlich vor. Ich hatte spätestens mit sechs Jahren aufgehört, mich an meiner Mutter festzuhalten. Sie aber schämten sich nicht, kilometerweit an der Hand eines weiblichen Wesens zu gehen. Oder machten die Mädchen so viel Druck, dass sie nicht anders konnten?

      Mein Mutter hätte so was nie gemacht. Sie bemühte sich eher, nicht so weiblich zu sein, um nicht von uns Männern ausgelacht zu werden. Sie weinte möglichst wenig und trug beim Bergsteigen einen Rucksack, der fast so schwer war wie der von meinem Vater. Wenn er sie vor einer Kuhweide fragte, ob sie ihre Schwestern begrüßen wolle, lachte sie tapfer mit ihm mit. Empfindlich war sie nur selten, und dann lag es an ihrer Periode. Das hatte mein Vater mir verraten, als sie mal weinend vom Essen weggerannt war, bloß weil sie es versalzen hatte. Selbstverständlich hatte ich mich gleich erkundigt, was eine