Wie ich den Sex erfand. Peter Probst

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Название Wie ich den Sex erfand
Автор произведения Peter Probst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144134



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Mutter schlug vor, dass er Hettis Vater anrief, um die Sache mit ihm zu besprechen. Aber mein Vater war nicht der Typ, der sich wegen einem rauschgiftsüchtigen Sohn versöhnte. Abgesehen davon telefonierte er nie. Er hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen unser schwarzes Bakelit-Telefon, war aber gleichzeitig magisch von ihm angezogen. Wenn es klingelte, rannte er in den Flur zum Apparat, blieb daneben stehen und rief: »Traudi, Telefon! Telefon! Jetzt beeil dich schon! Gertraud!«

      Meine Mutter antwortete immer mit: »Dr. Gillitzer, grüß Gott.« Bevor sie fragen konnte, mit wem sie sprach, flüsterte er schon aufgeregt: »Wer? Wer ist dran?« Dann deckte sie die Sprechmuschel ab und sagte den Namen. Und er sagte, egal, wer es war: »Ich bin nicht da.«

      Eigentlich hätte auch meine Mutter, die eine entspannte Beziehung zum Telefon pflegte, Dr. Kurz anrufen können, aber mein Vater traute ihr nicht zu, ein Problem mit einem Roten zu klären. Er hielt sie für politisch anfällig und bestellte deswegen immer Briefwahlunterlagen, um für sie abzustimmen. Sie protestierte zwar, das sei nicht demokratisch, aber er erklärte, an der Demokratie sei bekanntlich auch nicht alles perfekt. Er persönlich würde zum Beispiel halbe, Drittel- und Viertelstimmen für politisch weniger Informierte einführen.

      »Aha, und wie viel Stimme würdest du mir zugestehen?«

      Auf diese Frage bekam meine Mutter nie eine Antwort.

      Dr. Kurz wurde also nicht angerufen, und mein Vater setzte sich wieder. Er legte den Kochlöffel vor seinen Teller und presste beim Nachdenken die Lippen so zusammen, dass sie blau wurden. Er konnte es auf keinen Fall zulassen, dass sein Sohn weiter vergiftet wurde, schon gar nicht vom politischen Gegner.

      »Wir stecken ihn ins Internat.«

      »Was? Er ist noch keine zwölf!«, rief meine Mutter.

      »Wie sie mich in den Krieg geschickt haben, war ich auch erst neunzehn.«

      Sie fand das keinen guten Vergleich. Ich sagte nichts, weil ich mir sicher war, dass er bluffte. Ich hatte gehört, dass Internate eine Menge kosteten. Ein Vater, der das Corned Beef so streng rationierte, würde sein Geld nie für die Kindererziehung verschwenden.

       4

      Die Mutter meiner Mutter hieß Gymnastik-Oma, weil sie uns Kinder bei jedem Besuch mit der Frage empfing, ob wir auch brav unsere Leibesübungen machten. Sie selbst sei nur deswegen noch so beweglich, weil sie den Tag immer mit Gymnastik beginne. Allerdings hatten wir sie nie turnen sehen, und auch unsere Mutter war sich nicht sicher, ob sie je Sport gemacht hatte.

      »Freilich, Oma, kein Tag ohne Gymnastik«, sagten Berti und ich und bekamen jeder eine Tafel harte Vollmilchschokolade.

      »Ich auch«, sagte Sigi. Sie gab ihm einen Lutscher, weil seine Zähne noch wackelig waren.

      Mein Vater mochte seine Schwiegermutter nicht, und sie war froh, dass er sich nach dem Sonntagsbraten bei ihr schnell in einen Lehnstuhl zurückzog und einschlief.

      »Das Problem mit den beiden hat schon angefangen, als dein Vater um meine Hand angehalten hat«, verriet meine Mutter mir einmal.

      »Da hat der Beppo gedacht, er muss besonders lustig sein, und deine Oma hat ja leider keinen besonders ausgeprägten Humor.«

      Dafür konnte sie spannende Geschichten über ihre Familie erzählen.

      An diesem Sonntag schlief mein Vater nicht und fragte die Gymnastik-Oma über St. Ottilien aus. Dort nämlich war ihr vor drei Jahren verstorbener Mann, mein Opa Hammerl, einst Internatsschüler gewesen.

      »Eine ganz fabelhafte Schule«, sagte sie. »Und die Rettung für meinen Josef. Er ist ja aus so einfachen Verhältnissen gekommen. Seine Leute haben nur eine Kuh, eine Ziege und drei Hühner besessen. Im Winter hat die ganze Familie in den Stall umziehen müssen, weil es der einzige warme Ort in ihrer Bruchbude war.«

      »Mama, jetzt übertreibst du aber!«, griff meine Mutter ein.

      »Wenn ich’s dir sage: der Josef wäre garantiert verhungert, weil das Essen für den Jüngsten von zwölf Kindern nicht gereicht hätte.«

      »Von acht«, sagte meine Mutter.

      »Wäre da nicht der Pfarrer von Engelschalling gewesen. Der hat gemerkt, wie blitzgescheit der kleine Seppi war.«

      »Er hätte Pfarrer werden sollen, hast du mal erzählt«, sagte mein Vater.

      »Missionar. Aber das war nicht seine Bestimmung. Weil er der geborene Lehrer war.«

      Meine Oma betonte noch einmal, wie arm die Hammerls gewesen waren, wie sie überhaupt gern etwas zweimal sagte. Das war ihr deswegen so wichtig, weil sie selbst aus »besserem Hause« stammte. Ihr Vater hatte eine Gerberei besessen, und Gerber waren, auch wenn es bei ihnen schlimmer als im schmutzigsten Stall roch, angesehene Leute. Die Bayern mussten schließlich mit Lederhosen versorgt werden.

      »Ohne Schuhe, den ganzen Weg von Engelschalling aus! Hundertfünfzig Kilometer! Mutterseelenallein!«, rief meine Oma und schlug die Hand vor den Mund, als wäre mein Opa gerade erst barfuß in St. Ottilien angekommen.

      »Weißt du, ob die Pädagogik dort noch die alte ist?«, erkundigte sich mein Vater.

      »Ganz bestimmt«, sagte meine Oma. »Die Mönche legen ja großen Wert auf die Tradition.«

      Als er ihr verriet, dass er darüber nachdächte, mich ebenfalls nach St. Ottilien zu schicken, erklärte sie, sie habe immer schon davon geträumt, dass einer ihrer Enkel Missionar würde.

      »Dann bin ich ja ganz allein«, protestierte Berti.

      Ich wartete darauf, dass Sigi »ich auch« sagte, aber der hatte sich mit einem geklauten Lutscher unter den Tisch verzogen.

      »Aber«, sagte meine Mutter, »so jung darf man doch kein Kind aus dem Nest stoßen.«

      »Alt wird er von selber«, sagte mein Vater.

      Ich war mir sicher, dass er nur Theater spielte, damit ich vom Rauschgift abließ. Seine Sparsamkeit würde mich auf jeden Fall vor dem Internat beschützen.

      Doch dann erwähnte er den Bundesbruder. So hießen die Mitglieder seiner Studentenverbindung Unitas, die, wie er stets versicherte, »nichtschlagend, nicht farbentragend und selbstverständlich katholisch« war.

      »Ich habe einen in St. Ottilien.«

      Das änderte alles. Die Bundesbrüder machten Dinge möglich, die eigentlich unmöglich waren. Wahrscheinlich konnten sie sogar dafür sorgen, dass er einen teuren Internatsplatz zum Schnäppchenpreis bekam.

      Ich war verloren.

       5

      »Mein Vater«, sagte meine Mutter zu dem Pater, der ein Bundesbruder war, »ist auch hier gewesen.«

      Sie zeigte auf den neugotischen Kirchturm von St. Ottilien, meinte aber das angrenzende Internat.

      »Tatsächlich? Wie schön!«

      »Hammerl hat er geheißen.«

      »Hammerl?«

      Ich weiß nicht, ob der Pater deswegen schmunzelte oder ihm dieser Ausdruck von Haus aus ins Gesicht geschnitzt war.

      »Wir können gern später im Schülerarchiv nachschauen, wie er sich bei uns gemacht hat.«

      Er zwinkerte mir zu, als wollte er sagen, dass meine Enkel da später auch mal was über mich lesen könnten.

      »Aber jetzt schauen wir uns erst mal ein bisschen um, damit der Peter sieht, ob unser Laden was für ihn ist.«

      Ich fand es gemein, dass er so tat, als wäre es meine Entscheidung, ob ich ins Internat kam oder nicht.

      »Als Erstes gehen wir in unser Missionsmuseum. Weil, das ist wirklich unser Schmankerl.«

      Ich hatte es während der ganzen Fahrt geschafft, meine Gefühle unter