Название | Wie ich den Sex erfand |
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Автор произведения | Peter Probst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144134 |
»Das kann man so sagen.«
Ich hatte wissen wollen, ob alle Frauen diese Krankheit bekamen und wie oft und ob sie selber merkten, dass sie komisch waren, und ob es eine Medizin dagegen gab, und ob wirklich nur Frauen die Periode kriegten, weil mein Klassenkamerad Hans-Jürgen, der immer mit mir Schulbus fuhr, manchmal auch komisch war.
»Hauptsache, du bist nicht komisch«, hatte mein Vater gesagt und war aufgestanden, um nach seiner periodekranken Frau zu schauen.
Trotz ihrer Periode war meine Mutter das einzige weibliche Wesen, das ich ein bisschen zu verstehen glaubte. Alle anderen fand ich nur seltsam. Meine Gymnastik-Oma wollte, dass wir Gymnastik machten, obwohl sie selbst vielleicht noch nie Sport getrieben hatte. Hertha redete mit unserer Schäferhündin, als hätte sie es mit einem Baby zu tun, und Tante Afra bereitete sich mit Hunderten von versalzenen Eiern auf den Krieg vor. Am fremdesten waren mir die Mädchen in meinem Alter, was vielleicht auch daran lag, dass ich mit ihnen nach wie vor keinerlei Kontakt hatte. Das mit Hetti war die Ausnahme gewesen. Aber auch sie war mir ein Rätsel geblieben. Erst war sie mir um den Hals gefallen, dann hatte sie mich mit ihren Botschaften in solche Schwierigkeiten gebracht, dass ich beinahe in ein Internat gesperrt worden wäre. Und jetzt behandelte sie mich wegen meiner Frage nach einem einzigen unbekannten Wort – Unzucht – wie einen gefährlichen Verbrecher. Ich beschloss, dass die Mädchen mich nicht interessierten. Wieso sollte ich mir den Kopf über sie zerbrechen, wenn es so tolle Männer gab wie Franz Josef Strauß?
Am 22. 12. 1970 feierte ich meinen zwölften Geburtstag mit drei etwa gleichaltrigen Ministranten im Pfarrheim. Es gab von Hertha gebackenen Marmorkuchen und echten Kakao, und der Pfarrer kam vorbei, um mir ein Bildchen vom heiligen Tarzisius zu schenken.
»Bleib ein braver Diener Gottes, Peter«, sagte er und kniff mich in die Backe.
Kaum war er weg, ging es los. Ich hatte mich bewusst entschieden, nur mit Ministranten zu feiern, weil ich gehofft hatte, für sie wären die Mädchen nicht so wichtig. Aber sie waren genauso besessen von dem Thema wie meine Klassenkameraden, die fast alle durchdrehten. Sogar Thomas mit dem Totschläger-Opa, der sich immer nur abfällig über die Weiber geäußert hatte, ging plötzlich mit einem und hielt im Pausenhof vor aller Augen Händchen. Damit er keine Sekunde mit seiner Gabi versäumte, schenkte er mir Punkt halb zehn sein Brot und stürmte wie ein Irrer zu ihrem Klassenzimmer, um sie in die Pause abzuholen. Ich verstand beim besten Willen nicht, was so toll am Händchenhalten sein sollte. Mein Vater hatte mir erklärt, dass Mädchenhände zum Schwitzen neigten und deswegen deutlich mehr Bakterien übertrügen. Er selbst mied sicherheitshalber sogar die Hände meiner Mutter, die sich eigentlich nie feucht anfühlten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er sie jemals küsste. Ganz sicher nicht auf den Mund. Das bedeutete nicht, dass er sie gar nicht berührte, er legte nur lieber den Arm um sie und drückte sie so fest, dass sie aufschrie, oder gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Das machte er aber nur, wenn er glaubte, dass wir es nicht sahen.
Ein Arzt, der sich gut mit Frauen und noch besser mit Bakterien auskannte, war natürlich vorsichtiger als meine ahnungslosen Klassenkameraden. Die feierten sich gegenseitig dafür, wenn sie zu Händchenhaltern geworden waren. Als ich unvorsichtigerweise zugab, ein Leberwurstbrot mit Senf und Gurke, wie das von Thomas, jeder Mädchenhand vorzuziehen, hatte ich den letzten Rest Ansehen in meiner Klasse verspielt. Nach den Weihnachtferien fiel mir auf, dass mich auf dem ganzen Weg von der Bushaltestelle bis zum Klassenzimmer und auch dort kein Mensch mit mehr als einem gelangweilten Nicken oder einem »He« begrüßte, geschweige denn fragte, ob ich wieder im Skiurlaub in Tirol gewesen war – war ich nicht, weil Sigi kurz vor der Abfahrt die Windpocken bekommen hatte.
Es war so ungerecht. Eigentlich hätte ich berühmt sein müssen. Mir war beinahe die Muttergottes erschienen, und Willi Lucke saß hauptsächlich wegen mir im Landtag. Blöderweise konnte ich über beides nicht reden. Die Geschichte mit der Muttergottes hätten meine Klassenkameraden, die nicht mal die Namen der Kinder von Fátima kannten, nicht verstanden, und Vandalismus war offenbar verboten. Dabei wäre ich für meinen nächtlichen Wahlkampf bestimmt sehr bewundert worden. So aber musste ich im Februar 1971 bei den halbjährlich stattfindenden Klassensprecherwahlen erleben, dass ich nicht mal als Kandidat vorgeschlagen wurde. Ich wurde auch nicht erster oder zweiter Sportwart und nicht Klassenkassenwart. Gut, so ging es achtunddreißig anderen Schülern in meiner Klasse auch, aber die bekamen wenigstens gar kein Amt. Ich hingegen wurde mit fast hundert Prozent der Stimmen – allen außer meiner eigenen – zum Sauberkeitswart gewählt. Dieses Amt gab es nur in unserer Klasse 6A, was nicht daran lag, dass wir mehr Schmutz hinterließen als andere. Es war die Idee unseres einarmigen Geschichtslehrers, der im Krieg »gewisse Erfahrungen mit fehlender Hygiene« gemacht hatte. Welche, wollte er uns nicht verraten, wir vermuteten aber, dass ihm Ratten seinen Arm abgefressen hatten. Als Sauberkeitswart musste ich Apfelbutzen und rotzige Papiertaschentücher einsammeln und täglich den Papierkorb, in dem sich jede Menge ekliges, klebriges Zeug befand, leeren und säubern. Schlimmer noch als der Ekel war die Trauer. Ich verstand nicht, wieso ich so unbeliebt war. Ich war kein Schläger, ich klaute nicht und führte nie das große Wort. Mein Leben fühlte sich so verpfuscht an, dass ich mich zu fragen begann, ob ich vielleicht ähnlich wie die Schlange im Paradies von Gott verflucht worden war.
Vielleicht wusste ja Franz Josef Strauß Rat. Wir waren inzwischen per Du, er nannte mich Gillitzer, ich ihn Strauß, und unterhielten uns regelmäßig, bevor ich einschlief. Wir klärten Fragen wie, ob ich Russisch lernen sollte, damit ich den Russen, wenn er kam, in seiner Sprache begrüßen konnte. Strauß war dafür, weil ich sonst als bekennender Katholik gleich nach dem Einmarsch am nächsten Laternenpfahl aufgehängt werden würde. Als ich beim Abendessen meine Absicht kundtat, einen an unserer Schule angebotenen Kurs zu besuchen, war mein Vater von meiner politischen Weitsicht begeistert, meine Mutter sagte voraus, dass ich nicht viel mehr lernen würde als die Lehnwörter Kurort, Rjuksak und Buterbrod. Ich lernte auch noch, Wunderkind, Schlagbaum und Poltergeist, ansonsten behielt sie recht.
Das schmälerte mein Vertrauen in Franz Josef Strauß nicht im Geringsten. Es war ja nicht seine Schuld, dass ich nicht so strebsam war wie mein unzüchtiger Großvater. Ich fragte ihn also, was ich tun könnte, um von meinen Klassenkameraden endlich bewundert zu werden. Wenn es einen Experten gab, der wusste, wie man es von ganz unten nach ganz oben schaffte, dann Strauß. Sein Vater war ein Metzger gewesen. Wahrscheinlich hatte er beim Ausfragen im Lateinbuch seines Sohnes Blutflecken hinterlassen und beim Elternsprechtag der Sozialkundelehrerin erklärt, wie man ein Schwein absticht. Aber das hatte einen Franz Josef Strauß auf seinem Weg zum besten deutschen Politiker nicht aufhalten können.
»Wenn du bewundert werden willst, musst du dir den steilsten Zahn von allen nehmen.«
»Was ist ein steiler Zahn?«
»Ein Mädel halt.«
»Ich will aber kein Mädel!«
Ich schrie so laut, dass meine Mutter ihren Platz vor dem ZDF-Magazin verließ, um zu schauen, ob ich schlecht geträumt hatte.
Kaum war sie weg, machte Strauß mit der Mädels-Nummer weiter.
»Du musst ja nicht Händchen halten, Gillitzer.«
»Und woran erkennen die anderen dann, dass ich mit einem gehe?«
»Lass dir was einfallen. Du bist schlau. Nicht die Wirklichkeit ist wichtig, sondern das, was die anderen dafür halten.«
Manchmal war Strauß schwer zu verstehen. Das kam daher, dass er unglaublich intelligent war. Er hatte sein Abitur mit 1.0 gemacht und war Stipendiat im Maximilianeum geworden. Da nahmen sie wirklich nur die »Allergescheitesten«, wie mein Vater wusste. Ich fragte Franz Josef Strauß, was er damit gemeint hatte, dass die Wirklichkeit nicht das Entscheidende war. Aber er mochte keine Erklärungen und verwandelte sich wieder in das Plakat, das stumm über mir an der Decke hing. Entweder man verstand ihn gleich oder man hatte Pech.
Was hatte er mir bloß sagen wollen? Nicht die Wirklichkeit ist wichtig. Ich grübelte die ganze Nacht. Als es schon wieder hell wurde, hatte ich die Antwort endlich gefunden.