Wie ich den Sex erfand. Peter Probst

Читать онлайн.
Название Wie ich den Sex erfand
Автор произведения Peter Probst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144134



Скачать книгу

losgekommen war.

      »Ich …«

      Sie nickte mir aufmunternd zu.

      »Du weißt doch garantiert, was Unzucht ist?«

      »Was?«

      »Unzucht.«

      Ihre Augen wurden schmal und ihr Blick so starr, dass sie mir wie eines der ausgestopften Tiere mit den Glasaugen im Missionsmuseum vorkam.

      »Wieso fragst du mich das?«

      »Weil es mich interessiert.«

      Hetti hörte nicht auf, mich anzustarren.

      »Ich nehme kein Rauschgift mehr, ehrlich«, sagte ich.

      Aber das war ihr egal.

      »Wieso mich?«, sagte sie noch mal.

      »Na ja, ich denke, du kennst dich mit solchen Sachen aus.«

      Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde zuschlagen oder mir ins Gesicht spucken. Dann sagte sie nur: »Schwein« und lief weg.

      Nach dieser Begegnung wollte Hetti mich nicht mehr retten. Dafür hielt sie mich unter ständiger Beobachtung. Wenn ich mich im Pausenhof aus Versehen irgendeinem einzelnen Mädchen näherte, zog sie es schnell weg. Ich hatte den Eindruck, dass sie sämtliche Schülerinnen der fünften und sechsten Klasse vor mir warnte, denn alle wichen plötzlich angewidert oder verängstigt vor mir zurück.

       6

      »Die Sozis werden von den Kommunisten aus der DDR finanziert, weil die Roten heimlich zusammenhalten, verstehst du? Ihr größter Feind sind wir, die Katholiken, weil wir nicht an einen Willy Brandt oder Herbert Wehner glauben, sondern allein an unseren Herrgott. Hast du das verstanden, Peter?«

      »Hab ich.«

      Er saß an meinem Bett und nickte zufrieden.

      »Gute Nacht, Papa.«

      »Halt, eines noch: Welche Partei kämpft für uns?«

      »Die Schwarzen.«

      »Die CSU. Bist ein gescheiter Bub«, sagte er und hätte mich aus Versehen beinahe gestreichelt, obwohl er eigentlich nur kraulte, was ich ja nicht mochte.

      »Soll ich das Licht ausmachen?«

      »Ja, bitte.«

      Ich wohnte als Einziger im Erdgeschoss, warum, hatte mir nie jemand erklärt. Aber meine jüngeren Brüder durften ja auch am Tisch näher beim Vater sitzen. Da war es logisch, dass sie auch näher am Elternschlafzimmer im ersten Stock schliefen. Es gab Nächte, da hatte ich das Gefühl, dass ich in einem anderen Land lebte als der Rest der Familie, so groß war die Entfernung zwischen Berti, Sigi, meinen Eltern und mir. Dann drückte ich mich in meinem Bett ganz nah an die Wand. Trotzdem überfielen mich manchmal Gespenster oder ich hörte Einbrecher tuscheln und bekam so eine Panik, dass ich bis zum Morgengrauen wach lag.

      Doch jetzt hatte der Wahlkampf um den Bayerischen Landtag begonnen, und ich musste unbedingt mutiger werden. Während meine Eltern im Wohnzimmer nebenan das ZDF-Magazin von Gerhard Löwenthal sahen, dachte ich an den jungen Märtyrer Tarzisius, den ich in einem Theaterstück für Ministranten gespielt hatte. Ihn hatten Heidenbuben erschlagen, weil er geweihte Hostien nicht rausrücken wollte. Sicher hatte er noch mehr Angst gehabt als ich in manchen Nächten, als ihm sein Pfarrer sagte: »Bring mal schnell die Hostien zu den Katakomben rüber.« Jetzt war er weltberühmt. Gut, das hatte vor allem damit zu tun, dass die Heidenbuben ihn totgeschlagen hatten. Ich wollte eigentlich gern noch ein paar Jahre leben. Aber Mission war Mission.

      Ich wartete, bis meine Eltern endlich ins Bett gegangen waren, dann kletterte ich aus dem Fenster. Es war November geworden, die Nacht war bitterkalt.

      Willi Lucke kannte ich aus der Sonntagsmesse. Er hatte wie mein Vater eine große Nase, aber nur am Hinterkopf Haare, ein eckiges Kinn und spitze Ohren. Er saß immer in der vordersten Kirchenbank, schließlich sollten die Leute ihn sehen, damit er wieder in den Landtag gewählt wurde. Das Plakat von Willi Lucke mit den Buchstaben CSU hing überall. Sogar in Allach. Aber da traute ich mich nachts nicht hin. Allach war ein Arbeiterviertel, und wenn ich der moderne Tarzisius war, waren die Arbeiterbuben womöglich die Heiden von heute.

      Ich rannte am Bolzplatz vorbei über feuchte Wiesen, huschte über die nachts kaum befahrene Hauptstraße und erreichte eine große Plakatwand. Als ich mich keine zwei Minuten später wieder davonschlich, hatten unser Ministerpräsident Alfons Goppel und Willi Lucke die Wand für sich alleine. Ihre Konkurrenz lag im Gras. Die Plakate der Roten hatte ich zur Sicherheit zerfetzt.

      Zurück im Bett, zitterte ich wie die Nadel unserer Singer-Nähmaschine, und mein Herz schlug so laut, dass ich befürchtete, meine Eltern im ersten Stock zu wecken. Trotzdem zog ich in der nächsten Nacht wieder los und in der übernächsten auch. Ich traute mich immer weiter von unserem Haus weg, einmal sogar bis nach Allach. Dort verfolgte mich ein Rottweiler – zum Glück ohne sonderlichen Ehrgeiz –, in Obermenzing sogar eine Funkstreife. Ich musste mich im Müll des Alten Wirts verstecken und roch, weil meine Mutter uns nur alle zwei Wochen die Haare wusch, noch tagelang nach verfaultem Gemüse und Blut.

      Der Einzige, dem das auffiel, war Sigi, obwohl er in der Familie mit Abstand die kleinste Nase hatte. Er riefjedes Mal »bäh«, wenn ich ihm zu nahe kam. Das passierte nicht oft, denn ich interessierte mich nicht für seine Welt aus Bauklötzen und Matchbox-Autos, und er ging mir und Berti möglichst aus dem Weg. Wahrscheinlich hatten wir ihn zu lange als lebendes Spielzeug betrachtet und ihn durch unsere Experimente mit ihm verstört. Am spannendsten war die Zeit gewesen, als er laufen lernte. Wir freuten uns, wenn Hertha – unser Dienstmädchen, das wir neuerdings Hausangestellte nennen mussten – freihatte und wir ihn beaufsichtigen durften. Sigi war unheimlich stolz, als er endlich selbstständig stehen konnte. Er zog sich am Gitter des Laufstalls hoch und gluckste vor Vergnügen. Wir wurden Zeugen, wie er taumelnd seine ersten Schritte wagte. Er plumpste auf sein Windelpaket, zog sich wieder hoch und versuchte es erneut. Er war unermüdlich und schaffte es bald ohne Sturz von der einen auf die andere Seite des Laufstalls und wieder zurück. Wir lobten ihn und applaudierten, bis uns das Hin und Her langweilig wurde. Unsere Mutter hätte uns längst ablösen sollen, nur deswegen knoteten wir die Beine von Sigis Strumpfhose zusammen und stellten ihn wieder auf. Er lief los und fiel ungebremst aufs Gesicht. Er versuchte es sofort noch einmal – mit demselben Ergebnis. Aber Sigi war nicht der Typ, der schnell aufgab. Seine Stürze wurden immer übler, er heulte vor Verzweiflung und blutete aus der Nase. Da tat er uns leid, wir erlösten ihn und wischten ihm die Nase ab. Als unsere Mutter endlich nach Hause kam, entdeckte sie trotzdem, dass Sigi Nasenbluten gehabt hatte.

      »Er weiß noch nicht, dass man nicht so tief bohren darf«, sagte ich, und Berti meinte: »Das musst du ihm beibringen, sonst verblutet er noch mal.«

      Beim gemeinsamen Frühstück am Wochenende erschreckte unser Vater uns manchmal damit, dass er bei seiner Zeitungslektüre plötzlich eine Zeile laut las. Das passierte meistens, wenn er wütend wurde. Fast immer war Willy Brandt, also der Deserteur Herbert Frahm, der Anlass, weil er sich zum Beispiel mit dem stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden der DDR getroffen hatte oder zusammen mit seinem »nützlichen Idioten« Walter Scheel den Moskauer Vertrag unterschreiben wollte. Zu diesem Ritual gehörte, dass ich empört den Kopf schüttelte und »die verkaufen uns doch alle für dumm« sagte. Mein Vater freute sich, dass ich so ein gelehriger Schüler war, und vertiefte sich wieder in den Münchner Merkur.

      Mein letzter nächtlicher Ausflug, der im Müll des Alten Wirts geendet hatte, lag fünf Tage zurück und ich stank kaum noch. Da las er eine Schlagzeile vor, die nichts mit Willy Brandt zu tun hatte.

      »Aufregung im Plakatwahlkampf. Oppositionsparteien beklagen Vandalismus.«

      Ich wusste zwar nicht, was Vandalismus bedeutete, hatte aber so eine Vermutung und schwieg zur Sicherheit. Mein Vater war es nicht gewohnt, dass ich nicht reagierte, und schaute fragend hinter der Zeitung hervor. Unsere Blicke trafen sich. Ich versuchte noch schnell, ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, aber da wusste er es schon. Jetzt