Название | Wie ich den Sex erfand |
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Автор произведения | Peter Probst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144134 |
Mein Held war er auf jeden Fall – bis ich mich nach meiner missglückten Marienerscheinung allmählich für etwas interessierte, das es bei uns zu Hause nicht gab.
»Wir haben drei Mal zum lieben Gott gebetet, dass er uns Kinder schenkt«, sagte meine Mutter oft, »und drei Mal hat er unser Gebet erhört.« Sie sagte nie: »Dein Papa und ich, wir haben halt so Sachen gemacht, und irgendwann bin ich dick geworden.«
Das Wort Sex kam im Wortschatz unserer Familie gar nicht vor. Einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen meinem Vater und meiner Mutter, die sich nach drei Buben dringend noch eine Tochter wünschte. Da sagte mein Vater nicht: »Wir müssen ein viertes Mal beten«, sondern: »Am zu seltenen Beischlaf kann’s ja wohl nicht liegen, Traudi«. Ich versuchte mir vorzustellen, dass Kinder wuchsen, wenn eine Frau sich im Schlaf ganz fest an ihren Mann kuschelte. Ich schaffte es nicht. Aber als Wort gefiel Beischlaf mir gut. Deswegen schrieb ich es in das Heft, in dem ich seit einigen Wochen alle geheimnisvollen Wörter sammelte: unbefleckt und Hingabe, Empfängnis und feien, Unfehlbarkeit und so weiter.
Ich war mir nicht sicher, ob einer sich Erfinder nennen darf, der etwas erfindet, was es außerhalb der ihm bekannten Welt möglicherweise schon gibt.
Dann fragte unser Religionslehrer, Herr Habermann, uns, ob einer, zum Beispiel ein Südseeinsulaner, der noch nie von der Bibel und Jesus gehört hat, ein guter Christ sein könne.
Wie immer in diesem Fach meldete ich mich als Erster.
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Auch nicht, wenn er trotzdem so lebt, wie Jesus es von uns verlangt hat?«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil seine innere Stimme ihm sagt, was gut und was böse ist.«
Herr Habermann erklärte uns, dass man so einen Menschen einen »anonymen Christen« nennen dürfe. Da begriff ich, dass ich ein anonymer Erfinder war. Ich wusste nicht, ob es noch irgendwo anders auf der Welt Menschen gab, die vor Marienerscheinungen Angst hatten und auch sonst so dachten und fühlten wie ich und ähnliche Pläne hatten. Ich machte einfach das, was meine innere Stimme mir sagte. Und erfand den Sex, von dem ich im November 1970 noch nicht einmal das Wort kannte. Sonst hätte es ja in meinem Heft der geheimnisvollen Wörter gestanden.
3
An meiner Schule, einem altsprachlichen Gymnasium, besuchte ich die Klasse 6 A, die letzte mit ausschließlich katholischen Knaben. Die beiden Parallelklassen und der Jahrgang unter uns waren bereits gemischt. Einige ältere Lehrer, vor allem der Biologielehrer mit Schmiss und der einarmige Geschichtslehrer, rieten, uns als Elite zu fühlen, der Rest der Schule bedauerte uns.
Am ersten Tag nach den Herbstferien starteten die Mädchen der unteren Klassen, angeregt durch die Lektüre der in meinem Elternhaus streng verbotenen und deswegen von mir brav ignorierten Zeitschrift Bravo, eine Abstimmung.
Mit welchem Jungen würdest du am liebsten gehen?
Gleich mehrere meiner Klassenkameraden rechneten sich gute Chancen auf den ersten Platz aus. Die geheime Wahl mit Namenslisten zum Ankreuzen zog sich über drei Tage hin, sodass ich genug Zeit hatte, meine Attraktivität im von mir noch kaum benutzten Spiegel zu überprüfen. Meine Nase war zu groß, der Mund leicht schief, die Haare waren seit meiner Trennung von der Muttergottes gewachsen, aber zu ordentlich von rechts nach links gescheitelt, die Segelohren durch jahrelanges, nächtliches Ankleben mit Heftpflaster im Normbereich, die Schultern im Vergleich zum übrigen Körper zu ausgeprägt, der gelbe Rollkragenpulli sah genauso peinlich aus wie die Jeans – ich gehörte zu den wenigen in meiner Klasse, die ausschließlich bei C & A eingekleidet wurden. Ganz nett waren nur meine Augen, fand ich.
Ich verstand zwar nicht, wieso ein normaler Bub drauf scharf sein sollte, mit einem Mädchen zu gehen – ich stellte mir einsame Spaziergänge vor, bei denen ich langweiligen Geschichten zuhören musste. Aber verlieren wollte ich bei der Wahl auch nicht. Meine geheime Hoffnung war ein unauffälliger Platz im Mittelfeld.
Noch bevor das Ergebnis der Abstimmung verkündet wurde, suchte ich Kontakt zu Sanne, der Wahlleiterin.
»Und?«
»Was, und?«
»Vielleicht …«
»Was?«
»Vielleicht magst du es mir ja schon verraten …«
»Was denn, Peter?«
»Auf welchem Platz ich bin, halt.«
Sanne starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen.
»Ach, Mist«, sagte sie, »du warst überhaupt nicht auf unserer Vorschlagsliste.«
Sie hatten mich vergessen. Glatt vergessen. Und es war keinem einzigen Mädchen in allen fünften und sechsten Klassen aufgefallen. Nicht mal den hässlichsten.
Als Sanne im Pausenhof die Namen der Buben vom letzten bis zum ersten Platz feierlich vorlas, hörten alle, dass ich nicht dabei war.
Da ging es los.
»Auf welchem Platz bist du denn, Gillitzer? – Auf gar keinem? Heißt das, die Weiber denken, du bist ein Mädchen? Wieso hast du dann nicht mit abstimmen dürfen? Hättest du mit mir gehen wollen, Gillitzer?«
Ich stand reglos da und ließ den Spott über mich ergehen. Mir fiel kein lässiger Spruch ein, und eine Prügelei hätte ich mit Sicherheit verloren. Die meisten meiner Mitschüler waren in den letzten Monaten ein ganzes Stück gewachsen, nur ich nicht. Als Thomas aus der letzten Bank mich »Petra« nannte und mich unter dem Gejohle der anderen zu küssen versuchte, traf ich einen Entschluss: ab sofort wollte ich auffällig werden – auch außerhalb des Religionsunterrichts.
Im Haus meiner Eltern gab es einen Kellerraum, den wir Arzneimittelkeller nannten. Alle Zimmer hatten bei uns Namen, was sie fast zu Lebewesen werden ließ. Es gab freundliche, abweisende, einladende und verbotene Zimmer. Dazu gehörte der zwischen Vorrats- und Hobbykeller gelegene Arzneimittelkeller. Eigentlich sollte er immer abgeschlossen sein, aber meine Mutter vergaß das regelmäßig, weil sie gestresst war. In den drei Wände bedeckenden Regalen verstauten meine Eltern die Wein-, Sekt- und Schnapsflaschen, die Patienten in die Praxis brachten, weil sie hofften, dann weniger lang warten zu müssen. Dazwischen lagerten, nach Krankheiten sortiert, die sogenannten Ärztemuster, die uns der Postbote täglich brachte. Gleich neben der Abteilung Erkältungen/Grippe gab es ein staubiges Eck mit Medikamenten für Psychische Erkrankungen. Sie hießen zum Beispiel Tavor oder Haldol. Ich wusste, dass es auf der Welt viele Irre gab, einigermaßen harmlose wie den alten Schäfer und teuflisch gefährliche wie Hitler, bei dem ich immer Angst hatte, er könnte doch noch leben. Ich wusste nicht, wer besser welche Arznei bekommen hätte. Deswegen ließ ich eine größere Auswahl an Tablettenröllchen, Fläschchen und Packungen in meinem Schulranzen verschwinden. Trotz eingehender Gewissenserforschung fühlte ich mich nicht als Sünder. Erstens war es unwahrscheinlich, dass ausgerechnet jetzt ein Mitglied unserer Familie psychisch krank wurde und behandelt werden musste. Zweitens lieh ich die Medikamente ja nur aus.
Der Flur zwischen Heizungs- und Vorratskeller war mein Probenraum. Ich übte mit geschultertem Schulranzen das natürliche Stolpern. Ich ging ein paar Schritte, blieb an einer imaginären Wurzel hängen, verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, zog mit einem Ruck meine breiten Schultern hoch und schleuderte den Inhalt meines offenen Schulranzens über den Kopf. Ich trainierte stundenlang, bis mir der perfekte Wurf gelang, mit Pervitin und Ritalin auf dem Lateinbuch.
Henriette