Название | Chaos |
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Автор произведения | Gilles Kepel |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143427 |
Die folgenden Seiten werden diese chaotischen Jahrzehnte in den Zusammenhang einordnen – und dann versuchen, die sich abzeichnenden Fortentwicklungen zu skizzieren. Schließlich entspricht das vergangene halbe Jahrhundert genau dem Zeitraum meiner eigenen Erfahrungen, die ich persönlich als Zeuge vor Ort, als Beobachter und Chronist gemacht habe, bis ich gar von meinem Forschungsgegenstand aufgesogen wurde, als der sogenannte »Islamische Staat« mich zum Tode verurteilte. Diese jüngere Vergangenheit soll auf persönliche Art und Weise interpretiert werden, wobei ich die Fakten strukturiere und neben mir erhellend erscheinenden Einzelereignissen auch Entwicklungen aufzeige, die auf »lange Sicht« wirksam wurden.
Im ersten Teil des Buches werden die vier Jahrzehnte zwischen dem Oktoberkrieg 1973 und den als »Arabischer Frühling« bekannten Aufständen, die in Wahrheit im Winter 2010/2011 begannen, chronologisch dargestellt. Hier wird die Rede sein von der zunehmenden Islamisierung der Politik und der Gewaltspirale des Dschihad, der nach und nach den ganzen Planeten eroberte – angefangen im Jahr 1979, als man auf die Iranische Revolution mit einem von den USA unterstützten Krieg in Afghanistan antwortete, der zehn Jahre später in den Zerfall der Sowjetunion mündete. Ferner werden die drei Phasen des Dschihadismus erläutert, zu denen auch der 11. September 2001 gehört, an dem die Vereinigten Staaten völlig überraschend und dramatisch wie von einem Bumerang getroffen wurden. Dem beginnenden christlichen Jahrtausend sollte damit auf spektakuläre Art und Weise ein islamistisches Gewand übergestülpt werden. Diese Rückschau baut auf einem halben Dutzend meiner Veröffentlichungen zum Thema auf, angefangen von Der Prophet und der Pharao (1985) bis Terreur et martyre (2008), von denen ich nur jenes Material aufgegriffen und eingebaut habe, das mir für die Interpretation der entscheidenden, während der 2010er-Jahre plötzlich aufgetretenen Phänomene aussagekräftig erschien.
Dieses paradoxe Jahrzehnt steht im Mittelpunkt des zweiten Teils. Es begann hoffnungsvoll mit dem Arabischen Frühling 2011, fand seine Fortsetzung dann aber in der Verkündung des sogenannten »Islamischen Staats« durch Daesh und die Verbreitung des islamistischen Terrors bis nach Europa. Es endete schließlich mit dem Sturz des »Kalifats« im Herbst 2017, als nach Mossul auch Raqqa zurückerobert wurde. Ich habe auf beiden Seiten des Mittelmeers an der Analyse dieser Widersprüchlichkeiten gearbeitet: wie die Demokratiebewegungen trotz aller in sie gesetzten Hoffnung zum einen in das unvorstellbare Grauen des IS münden konnten und zum anderen in autoritären Regimen, Schurkenstaaten sowie recht- und gesetzlose Gebieten. Aufbauend auf Fragestellungen, die ich in Passion arabe (2013) und Terror in Frankreich (2015) entworfen habe, wird es um die Situation der sechs Länder gehen, die eine »arabische Revolution« durchlebten – also Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen und Syrien. Diesen schließen sich Überlegungen zum Irak an, denn im irakisch-syrischen Grenzgebiet erwachte das Monster IS zum Leben. Da der sogenannte »Islamische Staat« glücklicherweise Ende 2017 gestürzt wurde, können wir heute mit ausreichend Abstand die Gesamtheit der Ereignisse jener tragischen Zeit betrachten. Ich habe mich bemüht, aus der Menge an Tatsachen, von denen im Folgenden die Rede sein muss – etwa weil sie uns im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsam aufgezwungen wurden –, ein großes Tableau zu entwerfen und aus diesem dann Lehren zu ziehen, indem ich die aktuellen Ereignisse in das Langzeitgedächtnis der vorangegangenen Jahrzehnte eingeschrieben habe. Die Levante und vor allem Syrien, denen der größte Teil dieses Buchs gewidmet sind, bilden das Herzstück der Untersuchung, da in meinen Augen sich in dieser Region die Krisen, die den Nahen und Mittleren Osten sowie die muslimischen Länder Nordafrikas erschüttern, verdichteten und hier ihren Höhepunkt erreichten.
Im letzten Teil schlage ich eine Interpretation jener Ereignisse vor, die sich seit dem Winter 2017/2018 ereignet haben, also seit jener Phase, die mit dem Sturz des IS und der absehbaren Niederlage des syrischen Aufstands eingeleitet wurde. So soll das Ausmaß der tektonischen Verschiebungen erkennbar werden, deren erste Anzeichen bereits heute sichtbar sind. Dieses Material, zum Großteil bei Reisen durch Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten gesammelt, erlaubt uns, Hypothesen für die Szenarien genau zu überprüfen, die beide Seiten des Mittelmeerraums betreffen – zum Guten oder zum Schlechten. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Dschihad und dem Salafismus, aus dem Auseinanderbrechen des »sunnitischen Blocks« und den derzeitigen Umwälzungen auf der arabischen Halbinsel? Wird sich der Iran die Hegemonie in einer Region des »schiitischen Halbmonds« sichern oder macht die Auseinandersetzung mit Trumps Amerika diesen Erfolg zu einem Pyrrhussieg? Kann das nach seinem Einsatz in Syrien wieder zu einer Großmacht gewordene Russland unter Wladimir Putin zwischen seinen so widersprüchlichen Verbündeten wie Israel, Saudi-Arabien, der Türkei und dem Iran vermitteln? Und gelingt es Europa, das sich vor allem durch seine von Terroristen wie Flüchtlingen angesteuerte Mittelmeerküste plötzlich wieder in einer Krisenzone befindet, seine Passivität zu überwinden und sich erneut als geopolitischer Protagonist zu positionieren? Derzeit sieht Europa, von der Blockade seiner Institutionen gehemmt, den Zentrifugalkräften einer extremen Rechten wie eines linken, von Islamismus durchsetzten Populismus ohnmächtig zu.
Das Desinteresse der amerikanischen Supermacht, immerhin größter Öl- und Schiefergasproduzent, an der Region begann unter Präsident Obama und wird auf spektakuläre Art und Weise von dessen Nachfolger Donald Trump fortgesetzt. Damit ist Europa gezwungen, seiner Verantwortung voll und ganz gerecht zu werden. Unter diesen Voraussetzungen ist die Wiederbelebung der Levante ein entscheidender Punkt. Die Region wurde ihrer Lebensgrundlage beraubt, als der unternehmungsfreudigste Teil der Bevölkerung an die Küsten des Persischen Golfs abwanderte. Sie dürfte jedoch nach all den erschöpfenden Schlachten zwischen den Feinden auf ihrem Gebiet vom strukturellen Niedergang des Ölpreises besonders getroffen werden. Die Stärkung der Levante als Gelenk zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten und der Zusammenhalt der beiden Regionen sind daher das Mittel der Wahl, um einen kulturellen Zusammenstoß zu vermeiden, der ansonsten die Krisen der letzten Jahrzehnte verstetigen würde. Indem es sich bemüht, einen Entwurf für dieses notwendige Vorhaben zu entwickeln, möchte mein Buch einen kleinen Beitrag zum Aufbau unserer Zukunft liefern – über das Chaos hinaus.
1 | DIE ISLAMISIERUNG DER POLITISCHEN ORDNUNG (1973–1979) |
Der Niedergang des arabischen Nationalismus
Wenn wir in diesem Buch den Oktoberkrieg 1973 als Ausgangspunkt des Chaos im Nahen Osten verstehen, das sich ab dem 11. September 2001 über die ganze Welt ausbreitete und im sogenannten »Islamischen Staat« von 2014 bis 2017 gipfelte, dann vor allem, um auf den bedeutsamen kulturellen Bruch mit der damaligen politischen Elite zu verweisen, die im Zuge der Entkolonialisierung die Macht an sich gerissen hatte. Ihre bekanntesten Führer (etwa Nasser und Bourguiba) und ihre symbolträchtigsten Parteien (die Baath-Partei in Syrien und im Irak sowie die PLO in Palästina) hatten sich bei der Machtübernahme über die traditionelle islamische Legitimation, mit der muslimische Dynastien seit der Verkündigung des Propheten ihre Autorität begründeten, sowie über die soziale Ordnung hinweggesetzt, die sich in Medina und Mekka seit Beginn der islamischen Zeitrechnung (622 n. Chr.) herausgebildet hatte.
Noch