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syrische Präsident Hafiz al-Assad bekannte. Dann kamen sie zurück, um ihre »ungläubigen« Landsleute im Bataclan oder dem Stade de France zu töten. Und in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht ausmalen können, als erfahrener Arabist im Juni 2016 von einem franko-algerischen IS-Kämpfer zum Tode verurteilt zu werden. Ursprünglich aus Roanne stammend, war er in Oran aufgewachsen, befand sich nun aber in der syrischen Stadt Raqqa, wo der sogenannte »Islamische Staat« seine kurzlebige Hauptstadt errichtet hatte. Verkündet wurde das Urteil über Facebook.live von einem seiner Handlanger, einem Franzosen mit marokkanischen Wurzeln, der in Magnanville einen Polizisten und dessen Ehefrau ermordete. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich in der Folge gezwungen sein würde, mitten im Pariser Quartier Latin unter Polizeischutz zu leben. Zu meinen Studienzeiten war das Internet natürlich noch unbekannt, ja sogar unvorhersehbar oder undenkbar, und in einem zweidimensionalen Atlas sah man Staaten, deren Staatsgebilde und Territorien eindeutig durch schwarze Linien gekennzeichnet waren. So wie auf der Karte des Römischen Reichs, die 1974, also vor meinem orientalischen Traum, im Unterrichtsraum für Geisteswissenschaften hing und mich dazu verführte, im folgenden Sommer in Venedig ein Schiff zu besteigen. Ich wollte in Istanbul, in der Levante und Ägypten mit eigenen Augen all die Gegenden entdecken, die auf der Karte zu sehen gewesen waren. Niemand konnte damals die zahllosen Zusammenstöße antizipieren, die die digitale Welt und die sozialen Netzwerke in den Köpfen der Menschen und den Darstellungen der Welt auslösen sollten. Niemand ahnte die geistige Verwirrung voraus, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergehen sollte, mit der Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten, die uns vierzig Jahre später die Orientierung hat verlieren lassen.

      Auch wenn in Damaskus Ende der 1970er-Jahre Ruhe herrschte, so wütete das Chaos bereits im benachbarten Libanon. Der Bürgerkrieg mit seinen Gräueltaten tobte entlang politisch-konfessioneller Linien und verdeutlichte damit die Verwirrung, die zwischen den beiden Identitäten, »islamisch-progressiv« und »christlich-konservativ«, herrschte. Diese hybriden Bezeichnungen standen für den Konflikt um die bewaffneten palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, bei dem die immer weniger werdenden Maroniten, in der Mehrheit pro-westlich eingestellt, mit den Sunniten um die Macht rangen. Da die Sunniten sich eher für den Sozialismus begeisterten, versah man sie mit dem Attribut »progressiv«, auch wenn dies heute eher unangemessen oder veraltet wirkt. Was damals nur wenige Beobachter bemerkten: Die Ölmonarchien der arabischen Halbinsel und des saudischen Wahhabismus waren nach dem Oktoberkrieg 1973 durch den atemberaubenden Anstieg des Erdölpreises unglaublich reich geworden und entwickelten sich nun zu den wichtigsten Akteuren der um sich greifenden Reislamisierung der Region und versuchten, den kosmopolitischen Geist der Levante, wie ich ihn in meiner Jugend kennengelernt hatte, zu ersticken. Und niemand hätte gedacht, dass die Iranische Revolution, die wenig später ausbrach, aus den ehemals eher unbedeutenden, inzwischen aber durch eine konkurrierende islamistische Doktrin radikalisierten Schiiten die wichtigste politische Kraft des Libanon machen würde, die dann über Syrien und den Irak auch Persien erreichte.

      Meine Kollegen am Institut Français in Damaskus und ich waren Ende der 1970er-Jahre von der syrischen Kultur fasziniert, in die wir unsere bunt gemischten Wunschvorstellungen hineinfantasierten. Zumeist hatten wir nur wenig gelesen und waren kaum mit den in Vergessenheit geratenen Texten von Orient-Reisenden wie Volney oder Chateaubriand vertraut. Wir waren in der Regel oberflächlich links, mit einer Ideologie ausgestattet, die in den zehn Jahren nach dem Mai 1968 den studentischen Mikrokosmos beherrschte. In dem Jahrzehnt hatte dieses Linkssein jedoch seinen ursprünglichen Dogmatismus verloren, und es blieb nur eine vage Lehrmeinung übrig, eine wirre Vision der Welt, zu der einige wenige feste Überzeugungen wie Antiimperialismus und Antizionismus gehörten. In der Erwartung, dass diese zusammenbrechen würden, applaudierten wir a priori Syrien unter Hafiz al-Assad als Speerspitze des Widerstands gegen Israel und als Vorreiter des arabischen Progressivismus.

      Ich habe meine Illusionen recht schnell aufgegeben. Ich liebte die Landschaften Syriens – sie erinnerten mich an die vertraute Umgebung von Nizza, wo ich meine Kindheitsferien verbrachte, und zugleich an die Odyssee, die ich in Vorbereitung auf mein Studium kurz zuvor für einen Griechisch- und Lateinkurs gelesen hatte. Diese romantische Wiederkehr konnte jedoch nur kurz die Brutalität eines Regimes und die Gewalttätigkeit einer Gesellschaft überdecken, wie sie Riad Sattouf sehr anschaulich in den seit 2015 erschienenen Comics Der Araber von morgen beschreibt – und zwar genau so, wie ich es selbst erlebt habe. Im Pariser Quartier Latin war weder die Freiheit meiner Kollegen noch meine eigene je eingeschränkt gewesen, doch in Syrien mussten wir nun lernen, uns in der Öffentlichkeit bedeckt zu halten und anderen Menschen gegenüber misstrauisch zu sein. Wir entdeckten den Alltag in einer »linken« Diktatur und verstanden, dass wir weder von denen sprechen sollten, die in den Kerkern verschwunden waren, noch uns mit ihren Angehörigen zeigen durften. Am Institut Français in Damaskus lernte ich dann den acht Jahre älteren Michel Seurat (geboren 1947) kennen. Der hervorragende Arabist und von Alain Touraine inspirierte Soziologe widmete sich der Analyse des syrischen Regimes. Als er später mit seiner Frau und seinen kleinen Töchtern im Libanon wohnte, musste er seine Forschungsarbeit mit dem Leben bezahlen: Er wurde am 22. Mai 1985 am Flughafen Beirut von der aus Teheran und Damaskus gesteuerten, schwer zu fassenden »Organisation des islamischen Dschihad« entführt und starb 1986 in Gefangenschaft. Seine Mörder schmähten ihn als »spezialisierten Wissenschaftsspion«.

      Noch vor diesem traumatischen Ereignis, das mein Leben und meinen Blick entscheidend prägen sollte, war es vor allem die vom Schock der syrischen Realität ausgelöste Desillusionierung, die mich nach meiner Rückkehr nach Paris zu einer Entscheidung trieb: Ich gab das Studium der klassischen Geisteswissenschaften und der von ihnen verfremdeten alten arabischen Kultur auf und widmete mich fortan der Politikwissenschaft, um das Drama, das sich im Nahen und Mittleren Osten abspielte und meine simplen Gewissheiten ins Wanken brachte, zu verstehen. Kaum hatte ich 1978 mein Studium aufgenommen, sah ich mich mit einem weiteren Paradox konfrontiert: dem Ausbruch der »Islamischen Revolution« im Iran. Trotz meiner Zeit in Damaskus verfügte ich nicht über den inneren Abstand, der es mir erlaubt hätte, die »revolutionäre«, schiitische und antiimperialistische Islamisierung in Teheran mit ihrem »reaktionären«, sunnitischen und antisozialistischen Gegenstück in Riad in Verbindung zu bringen. Dabei begann in den 1970er-Jahren jener chaotische Kreislauf, zu dessen Motor zum einen die gewaltigen Einnahmen durch den Ölverkauf und zum Zweiten das Wachstum des politischen Islam wurden – was zur Zerstörung der Levante führte. Das Zusammenspiel dieser beiden Phänomene prägte die vergangenen fünfzig Jahre und damit zwei Generationen von Menschen. Mit der Ausrufung des »Kalifats« durch den sogenannten »Islamischen Staat«, zu Beginn des Ramadan am 29. Juni 2014, erreichte dies im Land des Scham seinen monströsen Höhepunkt. Im selben Jahr sank der Rohölpreis um sagenhafte 70 Prozent, was uns dazu zwingt, die mittel- und langfristigen Perspektiven der Region zu überdenken, also auch ihre politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft, darunter auch die Frage nach der Stellung der Religion in der Gesellschaft. Mehrere Gründe hatten zu dem Rückgang des Ölpreises geführt: Durch die gesteigerte Förderung von Schieferöl entwickelten sich die Vereinigten Staaten neben Russland und Saudi-Arabien zu einem der drei größten Ölproduzenten weltweit. Auch das veränderte Konsumverhalten der OECD-Länder, in denen Elektroautos perspektivisch eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, ließ durch sinkende Nachfrage den Ölpreis in den Keller gehen. Da sich beides gleichzeitig abspielt, steht das gesamte Einkommensmodell infrage, das sich in den letzten fünfzig Jahren im Nahen Osten etabliert hat, wie auch der Fortbestand seiner logischen Folge, nämlich des Hegemonialanspruchs des politischen Islam, den sowohl die arabischen Ölmonarchien wie auch ihre iranischen Rivalen auf der anderen Seite des Persischen Golfs propagieren.

      Ein scheinbar triviales Ereignis belegt die nie da gewesene Entkopplung des Herrscherhauses der Halbinsel vom salafistischen Establishment, das die Macht der Saudis in den zurückliegenden Jahrzehnten religiös legitimierte, während es sich zugleich dank der Zustimmung der gesamten sunnitischen Welt ausbreiten konnte: Mit seinem Dekret vom 26. September 2017 widersetzte sich der saudische König Salman ibn Abd al-Aziz den Protesten der Ulemas und ihren strengen moralischen Ansprüchen und erlaubte Frauen mit dem Ende des Ramadan 2018 das Autofahren. Siebenundzwanzig Jahre vorher, genauer am 6. November 1990 – rund eine Generation zuvor – waren saudische Frauen, die sich in Riad hinters