Im Norden der Dämmerung. Nuruddin Farah

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Название Im Norden der Dämmerung
Автор произведения Nuruddin Farah
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956143724



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Dann berichtet sie ihm kurz, was der Beamte gesagt hat.

      »Könntest du gleich zum Flughafen fahren und sie aus der Ankunftshalle abholen, Liebling.«

      »Natürlich«, sagt er.

      Als Mugdi wieder vor dem Ausgang der Ankunftshalle steht, ertönt plötzlich auf einem Handy der Ruf des Muezzin, der alle Muslime zum Nachmittagsgebet ruft. Er schaut sich neugierig nach dem Besitzer des Handys um und ist gespannt, wie die Nichtmuslime darauf reagieren. Sein Blick fällt auf einen jungen Mann mit Vollbart ohne Schnäuzer, der nicht weit entfernt von einer alten Frau in Nonnentracht steht – himmelblaue Tunika, weißes Skapulier mit schwarzen Fransen. Er praktiziert seinen Glauben zwar selten, aber als geborener Muslim weckt der Ruf des Muezzin doch Erinnerungen in ihm.

      Mugdi interessiert, was die Nonne von alldem hält. Sie bemerkt, dass er sie beobachtet. Ihr Mund breitet sich zu einem herzlichen Lächeln aus, ihre Augen leuchten freundlich. Er schätzt, dass die Frau aus dem Süden Indiens oder von Sri Lanka stammt. Da sie neben einem Rollstuhl mit einem sehr alten Mann steht, hält er sie für seine Pflegerin. Bei genauerer Betrachtung fällt ihm die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Vielleicht sind sie verwandt.

      »Wie alt ist er?«, fragt Mugdi.

      »Gerade neunzig geworden«, sagt sie.

      »Sie sehen sich so ähnlich, sind Sie verwandt?«

      »Er ist mein älterer Bruder.«

      »Kommen Sie aus Südindien oder Sri Lanka?«

      »Sri Lanka.«

      »Waren Sie lange hier in Norwegen?«

      »Ja, viel zu lange.«

      »Wir auch«, sagt Mugdi. »Meine Frau und ich.«

      »Aber in letzter Zeit hat mein Bruder das Wetter nicht mehr vertragen«, fährt sie fort. »Und da der Bürgerkrieg ja nun mehr oder weniger vorbei ist, hat er sich entschlossen, seine restlichen Tage in Colombo zu verbringen. Dort möchte er auch begraben werden.«

      Der alte Mann lässt den Strohhalm, mit dem er getrunken hat, auf den Boden fallen. Seine Schwester hebt ihn auf, wischt ihn mit einer Papierserviette ab und gibt ihn ihm zurück. »Und Sie?«, fragt sie. »Werden Sie später auch einmal dahin zurückkehren, wo Sie herkommen? Um dort zu sterben und begraben zu werden?«

      »Ich wünschte, ich wüsste, ob ich überhaupt zurückgehen könnte.«

      »Ihr Akzent hört sich nach Somalia an. Die Kämpfe in Ihrem Land wüten immer noch, oder?«

      Mugdi zögert. »Ja, ich komme aus Somalia.«

      »Ihr Bokmål ist ausgezeichnet«, sagt sie.

      »Ich bin ja auch schon über zwanzig Jahre hier.«

      »Ich heiße Tam, kurz für Tamannah«, sagt sie.

      »Mich nennen alle Mugdi«, sagt er.

      Tam holt ein Taschentuch hervor und wischt ihrem Bruder sanft etwas Speichel vom Kinn. Er erschrickt und öffnet die Augen. »Was?« Sie sagt etwas auf Tamilisch zu ihm. Der alte Mann nickt, und sein Kiefer bewegt sich wie bei einem Baby, das im Schlaf schmatzt.

      »Heißt eigentlich jeder zweite Somali Mohammed?«

      »Kennen Sie viele Somalis?«

      »Ich habe ein paar Bekannte in der Nachbarschaft, in Grønland. Kommt mir immer so vor, als hieße einer von dreien Mohammed. Aber sie haben auch viele Spitznamen. Haben Sie noch andere Vornamen?«, fragt sie ihn.

      »Zufälligerweise ist mein Vorname tatsächlich Mohammed«, sagt er. »Aber ich sage immer Mugdi, wenn man mich fragt. Das ist mein Spitzname, er bedeutet ›schwarz wie die Nacht‹. Meine Mutter hat mir den Namen gegeben, als sie mich zum ersten Mal gesehen hat. ›Mein Gott‹, hat sie gesagt. ›Ich habe die Nacht geboren.‹ Und dann hat sie laut gelacht.«

      »Leben Sie auch in Grønland?«

      »Nein, in Bislett.«

      »Viele Somalis in meiner Straße sind zu laut und zu wild«, sagt sie. »Manche scheinen es geradezu auf Ärger anzulegen. Erst vor Kurzem hat das Jugendamt fünf oder sechs von ihnen die Kinder weggenommen und in Pflegeheime gesteckt.«

      Mugdi hat von einigen somalischen Eltern gehört, die mit dem Jugendamt in Konflikt geraten sind. Er hat auch von Somalis gehört, die aus Angst vor dem Jugendamt und staatlicher Fürsorge ihre Kinder zurück nach Somalia oder zu anderen Verwandten in Europa geschickt haben.

      »Sie wollen nicht verreisen, oder?«, sagt Tam.

      »Ich warte auf die Witwe meines Sohnes und ihre Kinder.«

      »Wie alt sind die Kinder?«

      »Das Mädchen vierzehn, der Junge zwölf.«

      »Werden sie bei Ihnen wohnen?«, fragt sie.

      »Wir haben in Grønland eine Wohnung für sie gefunden.«

      Über die Lautsprecheranlage kommt die Durchsage, dass der Flug nach Colombo über Dubai pünktlich abhebe und die Passagiere sich zu ihrem Gate begeben sollten. Die Nonne schaut ihren friedlich schlafenden Bruder an. Dann schiebt sie ihm die Reisetasche zwischen die Füße, überprüft, ob sie die Tickets und Pässe hat, und weckt ihn dann leise flüsternd. Sie verabschiedet sich von Mugdi. »Ich wünsche Ihnen und der Witwe Ihres Sohnes und den Kindern alles Gute.«

      Kurz nachdem die Nonne gegangen ist, fällt Mugdi ein Teenager auf, der einen Gepäckwagen mit einem wackeligen, turmhohen Kofferberg vor sich herschiebt. Er hat Ähnlichkeit mit dem Naciim auf seinem Foto. Ein junges Mädchen und eine Frau, beide im Ganzkörperschleier, folgen ihm mit etwas Abstand. Dennoch ist unübersehbar, dass die drei zusammengehören. Mugdi lässt sie an sich vorbeigehen, ruft schnell Gacalo an, sagt, »Sie sind da«, und legt genauso schnell wieder auf. Dann ruft er laut einen somalischen Gruß: »Nabad, Naciim!«

      Naciim dreht sich um, läuft auf ihn zu und schließt ihn überschwänglich in die Arme. Waliya und Saafi nähern sich den beiden betont langsam, bleiben dann stehen, wechseln nervöse Blicke und einige Worte, die Mugdi nicht verstehen kann, und überprüfen dann den Sitz ihrer Gesichtsschleier.

      Mugdi verschränkt die Hände hinter dem Rücken und geht langsam auf die beiden Frauen zu. Er erwartet nicht, dass sie ihn bei der Begrüßung berühren, wie Naciim es getan hat. »Willkommen in Norwegen«, sagt er erst zu Waliya, dann zu Saafi.

      »Fahren wir mit dem Zug?«, fragt Naciim.

      »Nein, ich bin mit einem Mietwagen gekommen.«

      Mugdi geht mit dem Jungen voraus, die beiden Frauen folgen mit Abstand. Mugdi und Naciim warten vor dem Lift.

      Mugdi ist klar, dass es für einen Jungen, der fast sein ganzes Leben in einem Flüchtlingslager in einer staubigen Grenzstadt verbracht hat, fernab von den Annehmlichkeiten einer großen Stadt, eine große Sache ist, in einem Auto zu fahren. In Mugdis Jugend in Somalia bekamen die die Mädchen ab, die ein Auto hatten.

      »Wo bleiben sie bloß«, sagt der Junge leicht genervt.

      Die Frauen gehen langsam auf sie zu.

      »Jetzt schau sie dir an«, sagt Naciim. »Mein Stiefvater Dhaqaneh hat immer gesagt, in Europa ist Zeit Geld. Die beiden müssen lernen, schneller zu gehen.«

      Zusammen steigen die vier in den Lift. Als noch drei groß gewachsene, laute Norweger einsteigen, bemerkt Mugdi die Angst in den Augen der Frauen. Einer der Männer spricht laut und gestikulierend, wobei er Waliya mit einer Hand fast berührt. Panisch weicht die Witwe zurück und sagt laut auf Somalisch: »Sag doch einer was!«

      Auf höchste Korrektheit bedacht, wendet sich Mugdi nicht an Waliya, sondern leise an ihren Sohn, der seiner Mutter sagen möge, dass die Männer sich nur gut gelaunt unterhalten und es keinerlei Grund zur Sorge gebe.

      In der Parkgarage will Mugdi Naciim helfen, den Gepäckwagen zu schieben, aber der Junge besteht darauf, das allein zu machen. Waliya und Saafi steigen hinten ein,