Im Norden der Dämmerung. Nuruddin Farah

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Название Im Norden der Dämmerung
Автор произведения Nuruddin Farah
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956143724



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passiert?« Er erzählt ihr von den Anschlägen in Glasgow und London. »Geht es Onkel Kaluun und Eugenia gut?«, fragt sie.

      »Das versuche ich gerade herauszufinden.«

      Während er darauf wartet, dass in der Wohnung seines Bruders jemand abhebt, fragt Mugdi Timiro, wie sie sich fühlt. »Ich bin müde, völlig erledigt.« Sie wartet noch, bevor sie nach oben geht. Auch sie will wissen, ob Kaluun und Eugenia wohlauf sind. Nach den ersten Worten zwischen ihrem Vater und seinem Bruder weiß sie, dass alles in Ordnung ist. »Sag ihnen herzliche Grüße von mir, Papa.« Dann nimmt sie einfach ihren Teller Suppe und geht langsam die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

      Mugdi hört im Hintergrund die leisen Schritte seines Bruders, als der ihm sagt, er gehe gerade hinaus auf den Balkon, von wo er auf den Abney Park Cemetery sehen könne. Auf diesem Waldfriedhof im Osten Londons haben die beiden Brüder oft lange, vergnügte Spaziergänge unternommen.

      »Eugenia und mir geht es gut«, sagt Kaluun.

      »Wann seid ihr aus Schottland zurückgekommen?«

      »Heute Morgen mit dem Nachtzug.«

      »Ich bin froh, dass euch nichts passiert ist.«

      »Mein Abteilungsleiter braucht mich hier. Ich soll einen Kollegen aus der Nachtschicht entlasten.«

      »Überall in Europa läuten die Glocken der Panik. Auch hier in Norwegen hören wir sie laut und deutlich«, sagt Mugdi. »Die Täter haben sie zwar noch nicht erwischt, aber ich ahne schon, dass das Leute waren, die aussehen wie wir. Und da können wir sie noch so sehr verfluchen, natürlich wird man uns alle über einen Kamm scheren. Hoffentlich beruhigt sich das schnell wieder.«

      »Ich glaube, das wird eine Weile dauern. Jetzt was anderes, wie geht es Timiro? Eugenia und ich haben uns so gefreut, als sie angerufen und erzählt hat, dass sie schwanger ist.«

      »Sie ist etwas empfindlich und immer müde«, sagt Mugdi. »Aber sonst geht es ihr gut. Sie lässt euch grüßen.«

      »Als wir das letzte Mal gesprochen haben, hat sie Eugenia und mir gestanden, dass ihre Ehe am Ende ist. Ich habe versucht herauszubekommen, wo Xirsi jetzt ist, aber niemand scheint etwas zu wissen.«

      »Du hast sie miteinander bekannt gemacht, oder?«

      Kaluun wechselt erstaunlich schnell das Thema. »Und, wie geht es der Witwe und ihren Kindern«, fragt er.

      »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

      »Sie sind jetzt in Oslo, oder?«

      »Ja, aber wir haben sie noch nicht gesehen. Sie werden noch festgehalten und befragt. Ich weiß nicht, wie lange sich das hinzieht, aber nach den Ereignissen in Glasgow und London dauert es sicher länger. Die Rechten lechzen doch nach Muslimblut, Abschiebungen und drakonischen Überwachungsgesetzen.«

      »Du siehst mal wieder ziemlich schwarz, Bruderherz.«

      Kaluun ist nicht mehr so rigoros wie früher. Irgendetwas ist mit ihm passiert, denkt Mugdi. Als er nach England gezogen ist, da war er noch so hart wie Winterfutter. Aber in letzter Zeit ist er weicher geworden.

      »Was denkst du?«, fragt Mugdi.

      »Wir denken darüber nach, das Haus in London zu verkaufen und uns etwas auf einer Insel zu suchen, irgendwo in der Karibik, für den Ruhestand.«

      Mugdi weiß, dass Kaluun Reisen selten im Voraus plant und für die Flugtickets seiner Spontantrips oft sehr hohe Preise zahlt. Wenn er sich zu einer Reise entschließt, dann ist er gut bei Kasse. Er hat einen guten Job bei der BBC und keine Kinder. Er hat nie geheiratet, lebt aber mit seiner Partnerin Eugenia, einer angesehenen Rechtsanwältin, zusammen. Ihre Eltern stammen aus Montego Bay, aber sie wurde in London geboren. Sie wollen nicht heiraten, sie sind auch so glücklich, und das ist alles, was zählt. Mugdi mag Eugenia sehr.

      »Warum die Karibik? Wegen Eugenia?«

      »Weil die Karibik die einzige kosmopolitische Gegend in der Welt ist, wo jedermann willkommen ist und ich entspannter und mit weniger Angst leben kann. Leben und Leben lassen, das ist das Motto der Leute auf den kleineren Inseln. Zumindest kam es mir immer so vor, wenn ich dort war.«

      »Eine Woche Urlaub ist etwas völlig anderes, als ganz dort zu leben.«

      »Das ist mir klar«, sagt Kaluun, hält kurz inne und fährt dann fort. »Jedenfalls wird es Zeit, dass du uns mal wieder besuchst. Du bist schon lange nicht mehr hier gewesen.«

      »Nein danke, jetzt lieber nicht, wo alle so nervös sind.«

      »Das hält sicher nicht lange an.«

      Mugdi fällt auf, dass Kaluun ihm vor ein paar Minuten noch das genaue Gegenteil gesagt hat.

      »Man wird sehen.«

      »Große Städte kommen mit solchen Schockerlebnissen besser zurecht als kleine Städte oder homogenere Gesellschaften. Wenn so etwas in Oslo passieren würde, dann könnte das für das Norwegen, wie wir es kennen, fast das Ende bedeuten. Das sagt mir zumindest mein Gefühl.«

      Wieder verändert sich Kaluuns Stimme auffällig. Als wäre jemand zu ihm auf den Balkon gekommen. Wie zum Beweis sagt er: »Ich muss jetzt Schluss machen. Grüße Timiro und Gacalo herzlich von mir.«

      Beide hängen auf.

      Die beiden Brüder trennen sechzehn Jahre. Ihr Vater ist Polizeibeamter in Galkacyo in Zentral-Somalia gewesen, das erste Mitglied der Familie, das nicht mehr Viehhirte war, sondern einer von den jungen Leuten, die in die Städte abwanderten. Dort fing er als einfacher Polizist an. Harte Arbeit und Engagement, die Abendschule und schließlich die Einberufung in die erste Polizeiakademie des Landes hoben ihn von den anderen Rekruten ab, die eine praktische Ausbildung zum Polizisten erhielten. Später gehörte er zu einer Handvoll Polizeibeamten, die zur weiteren Ausbildung ins Ausland geschickt wurden. Fünf Jahre später, als Somalia 1950 zum UN-Treuhandgebiet unter italienischer Verwaltung wurde, kehrte er nach Hause zurück. Innerhalb eines Jahres wurde er einer der ersten Führungsoffiziere und wenig später der für einen ganzen Vorstadtbezirk verantwortliche Polizeibeamte. Nach der politischen Unabhängigkeit Somalias 1960 hatte ihr Vater nach dem Commandante della Polizia die zweithöchste Position im Polizeiapparat.

      Kaluun ist für seine Eltern ein Problem und für seine Schwestern eine Plage gewesen – zwischen den beiden Brüdern waren noch fünf Schwestern zur Welt gekommen. Als Kind war Kaluun in mehr Prügeleien verwickelt als die meisten seiner Altersgenossen. Mugdi nahm den Bruder unter seine Fittiche und schaffte es schließlich sogar, ihn durch die schwierigen Teenagerjahre zu lotsen. Und was noch wichtiger war: Er beschützte ihn vor seinem Vater, dessen Jähzorn man besser aus dem Weg ging, wenn man sich nicht von ihm verprügeln lassen wollte. Wenn Kaluun den Unterricht schwänzte, fälschte Mugdi für die Entschuldigungen die Unterschrift des Vaters. Eines Tages brach Kaluun bei einer Schlägerei einem viel älteren Jungen die Nase, und der Direktor bestellte ihren Vater in die Schule, was Mugdi nicht verhindern konnte. Kaluun erhielt seine verdiente Strafe. Der Zorn des Vaters entlud sich mit so harten Schlägen auf Kaluuns Rücken und Fußsohlen, dass er eine Woche lang nicht ohne Schmerzen gehen und schlafen konnte. Die Angst vor der Strafe seines Vaters, sollte er sich erneut danebenbenehmen, hielt ihn fortan auf dem rechten Weg.

      Etwa ein halbes Jahr, nachdem Mugdi seine erste Stelle als junger Diplomat in Westdeutschland angetreten hatte, machte Kaluun mit so guten Noten seinen Highschool-Abschluss, dass er an der Nationaluniversität zum Journalismusstudium zugelassen wurde.

      Gacalo war damals Hausfrau und sehr unglücklich. Sie fühlte sich nicht ausgefüllt, weil sie sich verzweifelt ein Kind wünschte, aber trotz ihrer Bemühungen nicht schwanger wurde. Mehrere Male konsultierte sie Ärzte und überredete dann auch Mugdi, sich testen zu lassen, was aber auch keine schlüssigen Ergebnisse lieferte. Mugdi machte sich deshalb keine Sorgen. Er war Anfang dreißig, Gacalo sechs Jahre jünger. Er war davon überzeugt, dass sie noch jede Menge Zeit hatten. Aber Gacalos Ängste führten zu täglichen Spannungen. Nach einer durchdiskutierten, reinigenden Nacht schlug Gacalo vor, nach Somalia zu fliegen und es dort mit alternativen Methoden zu versuchen. Mugdi hatte keine Einwände.