Название | Im Norden der Dämmerung |
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Автор произведения | Nuruddin Farah |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143724 |
»Erkläre mir bitte, wer dich als einzige Person dazu ausersehen hat, hier die Tür zu öffnen?«, fragt sie ihn.
»Als einziger Mann im Haushalt ist es meine Aufgabe, die Frauen vor allem zu bewahren, was den Namen der Familie entehren könnte«, sagt er. »Das ist der rechte Weg, der islamische Weg.«
»Wie beschützt du sie?«
»Ich entscheide, wer die Wohnung betritt und wer nicht.«
Naciim denkt an den Grundsatz, den sein Vater ihm eingebläut hat: dass in seiner Abwesenheit er, Naciim, der Mahram seiner Mutter und seiner Schwester sei und deshalb ihr Oberhaupt.
Schließlich bewegt sich die Tür zum angrenzenden Zimmer, und Saafi taucht auf. Ein zartes, liebliches und puppenartiges Wesen, makellos gekleidet und nur dezent mit einem Kopftuch verschleiert. Sie berührt mit den Lippen Gacalos und Timiros Hände und setzt sich dann auf den am weitesten von den beiden Frauen entfernten Stuhl, die Beine zusammen, die Füße geradeaus, die Hände im Schoß. Das Mädchen ist mit einer atemberaubenden Schönheit und verführerischen Augen gesegnet. Ein Jammer, denkt Timiro, dass sie ihre Schönheit vor der Welt verbergen muss.
In der Zwischenzeit tritt Waliya in den Raum. Ihr ist bewusst, wie wichtig es ist, beim ersten Zusammentreffen mit der Schwägerin einen guten Eindruck zu machen. Obwohl sie etwas rundlich um die Hüfte ist, bewegt sie sich elegant. Der Schleier ist aus hauchdünnem, dunklem Material mit einem schmalen Schlitz für die Augen. Ihr Blick fordert, oder besser beharrt auf raffinierte Weise darauf, dass man sie ein zweites Mal anschaut. Sie ist barfuß. Während sie weiter in den Raum hineingeht, in dem alle verstummt sind, richtet sie ein paar bewusst bezaubernde Worte an Gacalo. Sie bleibt mit etwas Abstand vor Timiro stehen, senkt den Kopf und heißt sie mit einigen geflüsterten Worten willkommen.
Waliya und Timiro mustern sich von Kopf bis Fuß, sagen aber lange Zeit kein Wort. Waliya setzt sich ebenfalls auf einen Stuhl, der weit von Timiro entfernt ist.
»Was darf ich euch anbieten? Einen Tee?«, fragt sie.
»Ich kann auch Kaffee machen«, sagt Saafi.
»Wir wollten nur kurz schauen, wie es euch geht«, sagt Gacalo. »Vielleicht wollt ihr zu uns zum Essen kommen?«
»Wir kommen bestens zurecht«, sagt Waliya.
»Der Herd funktioniert? Ihr könnt euch was kochen?«
»Naciim hat herausgefunden, wie er funktioniert. Er gibt nicht nach, bis er weiß, wie etwas funktioniert. Ob ein Herd oder Kühlschrank oder Handy. Dhaqaneh hat ihm viel beigebracht.«
Während sie spricht, behält sie auch Naciim aufmerksam im Auge. Schließlich hat sie genug davon, wie er Timiro angafft. »Was sitzt du hier bei den Frauen?«, sagt sie zu ihm. »Bitte geh in dein Zimmer und lern die Verse, die dein Koranlehrer dir aufgegeben hat.«
»Ja, Mutter«, sagt er mürrisch und steht auf.
Sie sei beeindruckt, sagt Gacalo zu Waliya, dass sie einen Lehrer gefunden habe, der dem Jungen Koranunterricht erteilt.
Timiro verfolgt das Gespräch genau, schaut jetzt zu Saafi und dann zu Waliya. »Da wir schon beim Thema sind«, sagt sie. »Ich würde gern etwas mehr über die Erziehung von Saafi und Naciim erfahren.«
»Saafi ist zu Hause unterrichtet worden«, sagt Waliya. »Wir haben sie von der staatlichen Schule in Kenia abgemeldet.«
Timiro kann nicht umhin, Waliya direkt zu fragen. »Willst du uns damit sagen, dass du deine Tochter zu Hause behalten hast und sie nicht zusammen mit den anderen Kindern in die Schule des Flüchtlingslagers geschickt hast?«
»Das habe ich nicht gesagt«, sagt Waliya.
»Was hast du dann gesagt?«
Weil Waliya nicht sofort antwortet, greift Gacalo ein und blockt die Forderung ihrer Tochter nach einer genaueren Erklärung Waliyas ab. »Das reicht erst mal, Timiro«, sagt sie und wendet sich an Waliya. »Und was ist mit Naciim?«
Timiros Fragen machen Waliya wütend, deshalb schlägt sie einen anderen Kurs ein. Sie wirft Saafi einen flehentlichen Blick zu, dass sie doch die Frage über ihren Bruder beantworten möge. Saafi gehorcht. »Er ist zwölf Jahre alt und geht in die siebte Klasse.«
»Lass mich meine Frage wiederholen: Welche Art von Erziehung möchtest du hier in Norwegen für deine Kinder?«
Waliya macht Saafi ein Zeichen, dass sie das Zimmer verlassen soll.
»Ich möchte eine gute Erziehung für beide Kinder, und wir nehmen gern jede Hilfe an«, sagt Waliya. »Am wichtigsten ist mir, dass sie die heilige Sprache des Propheten und des Koran erlernen und dann Unterricht in islamischer Theologie erhalten.«
»Ich fürchte«, erwidert Timiro, »dass du für die Art ›guter Erziehung‹ im falschen Land bist.«
Gacalo ist bestürzt. Sie wünscht, sie hätte vorher mit Timiro über dieses Thema gesprochen.
»Warum sagst du, dass Norwegen dafür das falsche Land ist?«, fragte Waliya. »Gibt es hier keine Muslime, die den Koran unterrichten und ihren Kindern die Überlieferungen des Propheten nahebringen?«
Fast versagt Gacalo die Stimme, als sie Waliya erläutert: »Du musst wissen, die staatlichen Schulen hier vermitteln nicht die Art von ›guter Erziehung‹, die du dir für Saafi und Naciim vorstellst.«
»Und wie machen das die anderen Muslime?«, fragt Waliya.
»Moscheen und Islamzentren bieten Kurse an, aber nur nach der Schule«, sagt Gacalo. »Außerhalb des Lehrplans, nicht als Hauptfächer.«
»Gibt es keine anderen Möglichkeiten?«
»Die beste wäre, zu warten, bis sie ihr erstes Examen an der Universität gemacht haben«, sagt Timiro. »Dann können sie einen Masterabschluss in Theologie machen.«
Aus ihrem Gesichtsausdruck schließt Timiro, dass Waliya keine Ahnung hat, was ein erstes Examen oder ein Masterabschluss ist oder wo man diese erwirbt.
Timiro wechselt das Thema und fragt: »Warum hast du dich und deine Kinder überhaupt so einer großen Gefahr ausgesetzt, um es bis nach Oslo zu schaffen?«
»Was soll das, Timiro?«, wirft Gacalo ein, als Waliya wiederholt, dass sie nur das Beste für ihre Kinder will.
»Mit der Erziehung, die du dir vorstellst, wenn sie denn zu haben wäre, landen deine Kinder nur in der breiten Unterschicht Norwegens«, sagt Timiro.
Gacalo und Waliya hören schweigend zu, als Timiro in scharfem Ton fortfährt. »Warum bist du nicht in ein islamisches Land wie Saudi-Arabien gegangen, wo deine Kinder in den Genuss der von dir so ersehnten ›guten Erziehung‹ kommen würden?«
Schließlich fällt Gacalo ihr energisch ins Wort. »Du hörst dich an, als würdest du in einem umkämpften Wahlkreis für eine rechte Partei um Stimmen werben.«
»Du hältst dich da raus, Mama.«
Die erregte Timiro beginnt, Waliya zu verhören. »Wie alt warst du, als du aus Somalia geflohen bist und Unterschlupf in Kenia gefunden hast?«
»Ich war fünfzehn, sechzehn.«
»Hast du jemals außerhalb des Haushalts gearbeitet?«
»Warum fragst du?«
»Außer als Callgirl?«
»Wer sagt, dass ich ein Callgirl war?«
»Mein Bruder hat mir in einem seiner seltenen Anrufe erzählt, wie du früher gewesen bist. Erst, da waren deine Kinder noch kleiner, als Partygirl für die Lagerbosse, und dann, später, die Kinder waren schon ein bisschen älter, als fleißige Besucherin der Luxusfeste, die die Expats in Nairobi jedes Wochenende gefeiert haben. Mein Bruder hat mir versichert, dass er es war, der aus dir eine gute Frau gemacht hat. Also spiele hier nicht die verschleierte und gekränkte Heilige, das bist du nämlich nicht. Mein Bruder war kein Idiot, meinen Eltern hat er das natürlich nicht erzählt. Aber mir, weil