Название | Im Norden der Dämmerung |
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Автор произведения | Nuruddin Farah |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143724 |
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Vielleicht kann ich sie unter einem Vorwand aus der Stadt schleusen«, sagte Gacalo. »Sie ist eine außergewöhnlich gute Studentin. Ein dreimonatiges Stipendium in Kenia vielleicht, in Mombasa.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«
»Kaluun will sie nicht heiraten, und das Mädchen will die ganze Geschichte so schnell wie möglich vergessen. Mein Plan ist sicherer als eine Hinterhofabtreibung.«
»Sei vorsichtig. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
Sie versprach ihm, sehr vorsichtig zu sein.
Mugdi hatte die beherzte Art seiner Frau schon immer bewundert. Er versprach, jede ihrer Entscheidungen mitzutragen, sagte aber auch, sie solle ihm nicht alles erzählen, damit er sich keine Sorgen machen müsse.
Als Gacalo sich das nächste Mal meldete, war sie zusammen mit dem Mädchen in Mombasa. Sie hoffte, man würde ihr und dem Mädchen nicht zu viele Fragen stellen.
Für die erste Woche in Mombasa nahmen sie sich ein Hotelzimmer. Danach mieteten sie eine Zweizimmer-Erdgeschosswohnung, die ihnen ein freundlicher Immobilienmakler vermittelt hatte. Sie lag im Vorort Mwembe Tayari, wo es weniger Wohnhäuser gab als in der Stadt und sie unbehelligt blieben. Dank eines jungen Angestellten bei der Stadtverwaltung, der für seine Hilfe ein Schmiergeld in Empfang nahm, konnte Gacalo das Baby problemlos als ihres anmelden.
Als das Mädchen sich wieder erholt hatte, setzte Gacalo es in ein Flugzeug zurück nach Mogadischu. Sie blieb noch drei Monate in Kenia, von denen sie die beiden letzten damit beschäftigt war, in Nairobi für das Baby ein Visum in ihren somalischen Pass eintragen zu lassen. Um mit dem in Tüchern eingewickelten Baby im Arm das Land verlassen zu können, bestach sie einen kenianischen Einwanderungsbeamten. In Mogadischu besorgte sie die Adoptionspapiere. Mugdi war erfreut, der Vater eines kleinen Mädchens zu werden, das Gacalo nach ihrer verstorbenen Mutter Timiro nannte – die so »süß wie Datteln« war.
Gacalo fütterte das Baby mit der Flasche. Es machte keine Probleme, schlief und trank gut. Insgeheim legte sie sich das Baby an die Brust und »säugte« es gemäß einem althergebrachten somalischen Glauben, dass sie so vielleicht ein Kind bekommen würde. Noch heute glaubt Gacalo, dass sie dank dieses »Säugens« vier Jahre später schwanger wurde und Dhaqaneh zur Welt brachte.
Später erfuhr Gacalo von Kaluun, dass es mit Timiros leiblicher Mutter ein trauriges Ende genommen hatte. Sie war ein halbes Jahr nach Timiros Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war auf dem Weg zum Flughafen gewesen, von wo sie nach Bukarest hatte fliegen wollen, um Medizin zu studieren.
Weder Mugdi noch Gacalo hatten sich je die Frage gestellt, ob Kaluun Timiro vielleicht einmal erzählen würde, dass er ihr leiblicher Vater war. Die allgemeine Sprachregelung lautete, dass sie als Baby adoptiert worden war. Warum ihr mehr erzählen, wenn sie keine Fragen stellte? Sie ist glücklich als ihre Tochter, und nur das war für alle Beteiligten von Bedeutung.
Gacalo kommt nach einem sehr langen Bürotag nach Hause und macht den Eindruck, als trage sie eine schwere Last mit sich herum.
Als Mugdi für sich und Gacalo eine Tasse Tee zubereitet, kommt Timiro dazu. »Mach mir auch eine, Papa«, sagt Timiro.
Mugdi richtet Grüße von Kaluun aus.
»Wie geht es ihnen?«, fragt Gacalo.
»Alles bestens«, sagt er. »Sie haben im Westen Schottlands noch Urlaub gemacht und sind jetzt wieder in London.«
»Hoffentlich haben die Anschläge von Glasgow und London keine negativen Auswirkungen auf die Asylverfahren von Waliya und den Kindern«, sagt Gacalo.
»Mir macht auch Sorgen, dass das Gespenst der Angst wieder umgeht«, sagt Mugdi. »Wir wären besser dran ohne SUVs, die in Flughäfen rasen, oder Bomben, die in U-Bahnhöfen explodieren. Für Dhaqanehs Witwe und die Kinder und viele andere in ähnlicher Lage machen derart barbarische Anschläge alles nur noch komplizierter. Und für uns auch, wir sind alle gefährdet.«
Ein paar Minuten später krümmt sich Gacalo auf ihrem Stuhl zusammen und beugt den Kopf vor. Die Augen sind geschlossen, die Kiefer verspannt, und sie knirscht mit den Zähnen, als habe sie Schmerzen. Mugdi und Timiro wissen um ihr schwaches Herz. Mugdi erinnert sich an ein ähnliches Aufflackern der Symptome, als sie die Nachricht von Dhaqanehs Selbstmord erhielten. Und wie um seinen Befund zu bestätigen, presst sie die Hand auf die linke Brustseite. Mugdi geht zu ihr, nimmt ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, Liebling. Es wird alles gut werden.«
Gacalo richtet sich auf und atmet tief ein und aus. Dann öffnet sie die Augen und schaut sie an, als wundere sie sich, noch am Leben zu sein. »Hoffentlich.«
KAPITEL VIER
Nach einer erholsamen Nacht fühlt sich Gacalo am nächsten Morgen viel besser und frühstückt mit Timiro. Die junge Frau holt sich ein Glas Wasser und setzt sich wieder zu ihrer Mutter. »Heute Nacht hatte ich einen bizarren Traum«, sagt sie.
»Warum bizarr?«
»Ich war in Genf auf einer Party, und da hat sich der Absatz von meinem rechten Schuh gelöst. Die Frau in dem Laden, wo ich das reparieren lassen wollte, hat gesagt, dass die Schuhe ein billiges Imitat sind.«
Das Telefon klingelt, und Timiro verstummt. Gacalo hebt ab. Der Anrufer stellt sich als stellvertretender Leiter der Politiets utlendingsenhet, kurz PU, vor – der Abteilung der Ausländerpolizei, die für die Registrierung frisch eingetroffener Asylbewerber zuständig ist.
»Ich habe ein paar Fragen vorab«, sagt er. »Und zwar zu Frau Ahmed und ihren beiden minderjährigen Kindern, die behaupten, Verwandte von Ihnen zu sein. Sie ist die Witwe Ihres Sohnes, der norwegischer Staatsbürger war. Es wäre nötig, dass Sie persönlich bei uns vorbeischauen, um noch weitere Fragen zu beantworten.«
»Ich weiß, dass sie im Land sind, weil Waliya und ich telefonisch in Verbindung stehen.«
»Die Witwe behauptet, sie sind Ihre Gäste.«
»Ja, sie und die Kinder sind unsere Gäste.«
»Sie sagt, Sie hätten Ihnen eine Wohnung besorgt und würden für Ihren Unterhalt aufkommen, bis die norwegische Einwanderungsbehörde über ihren Status entschieden hat. Ist das korrekt?«
»Ja, das ist korrekt.«
»Ist Ihnen klar, dass die Witwe und ihre Kinder bis zur Bewilligung des Aslyantrags keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat haben?«, fragt er.
»Ja, das ist mir klar.«
»Bringen Sie bitte alle nötigen Dokumente mit, auch den Mietvertrag für das Haus oder die Wohnung, wo Ihre Verwandten leben werden. Wenn Sie diese Bedingungen erfüllen, können Sie Ihre Verwandten aus unserem Gewahrsam abholen.« Dann gibt er ihr die Adresse.
»Kann auch mein Mann mit den unterschriebenen Dokumenten vorbeikommen und sie abholen?«, fragt sie.
»Natürlich«, sagt der Beamte und legt auf.
Sie hat kaum aufgelegt, als Mugdi in die Küche kommt. Er ist noch im Schlafanzug und reibt sich zum Erwachen in der neuen Realität, von der Gacalo ihm sicher