Der Philosoph . Wilm Hüffer

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Название Der Philosoph
Автор произведения Wilm Hüffer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947373758



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und öffnete am Ende der Diele die Tür zu einer Kammer, deren Fenster in den rückwärtigen Garten wies. Das Zimmer war leer, bis auf eine geblümte, an die Wand gelehnte Matratze, einen fleckigen Eichentisch und einen Stuhl, vermutlich die Hinterlassenschaft des vormaligen Besitzers. Die nachgedunkelten Wände zeigten scharfkantige weiße Flecken. Von wem er die deprimierenden Räumlichkeiten bezogen hatte, hat mir Dr. Lenz nicht verraten. Er schien überhaupt entschlossen, mir möglichst wenig Hinweise auf seine näheren Lebensumstände zu geben. Von dem Haus, das er während der letzten Monate seines Lebens bewohnt hat, habe ich kaum mehr zu Gesicht bekommen als jenes trostlose Verlies, das für mehrere Wochen mein Domizil werden sollte, und den Wohnraum, den wir betraten, kaum dass ich meine Tasche abgestellt hatte.

      Fahrig räumte der Doktor zwei Teegedecke auf einen großen, mit Büchern und Papieren übersäten Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, schenkte aus einer gläsernen Kanne ein, setzte sich, stand wieder auf, stapfte in die benachbarte Küche, begann dort lautstark herumzuräumen und kam zurück mit einer Schachtel billiger Kekse, die er wortlos auf den Tisch schob. Dann saßen wir einander gegenüber und nippten an unseren Tassen. Der Tee war lauwarm und schmeckte furchtbar. Im Raum war es dunkel. Vor den beiden Terrassentüren, die in den Garten hinausführten, war eine Wand aus Umzugskisten errichtet. Nur oberhalb dieser Mauer fiel etwas Licht herein. Schweigend blickte ich mich um. Hinten im Zimmer stand ein schwerer Schreibtisch, ein geschmackloses Möbelstück aus schwarz lackiertem Holz mit wuchtigem Schubladenaufsatz, daneben ein Kellerregal mit wenigen, wahllos eingelegten Böden, auf denen sich Bücher stapelten.

      »Ich bin dankbar, dass Sie gekommen sind«, sagte Dr. Lenz schließlich und ließ nochmals eine Minute verstreichen. Dank meiner Gesprächsnotizen kann ich den Wortlaut präzise wiedergeben. »Hinrich Giers ist … verändert.« Der Doktor zuckte mit dem Kopf und zog die Schulterblätter nach oben, als ob er den Schrecken darüber zu unterdrücken versuchte, wie gründlich auch sein eigenes Leben infolge dieser Entdeckung verändert war. »Er bedarf der Ruhe«, lautete die Schlussfolgerung des Doktors, ganz so, als ob er selbst bereits entsprechende ärztliche Anordnungen getroffen habe. »Es ist unsere Aufgabe, alles zu tun, um unserem Freund die Souveränität über sein Leben zurückzugeben.« Offenbar war Dr. Lenz dabei, mir eine Art Lagebericht vorzutragen, der mich über die Situation orientieren sollte. »Hinrich Giers möchte die Verfügungsgewalt über sein Werk zurückgewinnen. Es macht den Eindruck, als würde er Atem holen … Atem holen für die letzte große Aufgabe … die große Mission seines Lebens, von der wir wissen, dass er sie … trotz aller Anstrengungen … bisher noch nicht erfüllen konnte«, verkündete Dr. Lenz, offenbar in dem Glauben, von der Warte eines objektiven Beobachters zu sprechen, und skizzierte sogleich seine Hoffnungen. »Es geht um das Werk, mit dem Hinrich Giers seinen Namen verewigen wird, mit dem er vollenden wird, wofür wir damals angetreten sind in der ›Sozialen Gesellschaft‹«.

      Mit beklagenswerter Vorhersehbarkeit wiederholte der Doktor dann vieles aus jener alten Theorie der »Sozialen Gesellschaft«, die sein Lehrer zuletzt vor dreißig Jahren vorgetragen hatte und deren Einzelheiten ich dir ersparen möchte. Was aus den akademischen Anfängen von Hinrich Giers bestenfalls als blasser Titel einer Zeitschrift übriggeblieben war, dürfte Dr. Lenz bis zum letzten Moment angetrieben haben: die verführerische Idee einer letztgültigen Theorie. Der fundamentale Irrtum, die Selbstbefragung des Menschen zu einem Ende bringen, auf die Frage nach der Selbsterkenntnis eine endgültige Antwort geben zu können. Der Doktor hatte keine Freude an der unerschöpflichen Kraft und Tätigkeit der Vernunft, ihren immer neuen Hervorbringungen. Wie alle Menschen, die im Verborgenen ihre Lebensängste hegen, wünschte er sich feste Resultate. Der Gedanke erschien ihm furchtbar, dass Selbsterkenntnis der bloße Abguss eines Zustands, die Spiegelung eines geistigen Augenblicks sein könnte. Ich war überzeugt, dass er Illusionen nachhing, hier oben, in der selbstgewählten Einöde auf dem Fichtenbuckel. Er war nicht nach Binsenburg gekommen, um sich in eine offene Auseinandersetzung zu begeben, sondern verteidigte hinter selbsterrichteten Kartonwänden seine vermeintlichen Gewissheiten. Meine anfangs verspürte Zuversicht drohte zu verflachen. Unfähig, mich länger zu beherrschen, unterbrach ich den Lagebericht. »Herr Dr. Lenz, wozu bin ich hier?«

      11

      Oft habe ich mich seit unserem Wiedersehen in der Binsenburger Allee gefragt, woher du dir deiner Sache so sicher zu sein geglaubt hast. Woher die Manier, das Leben in einen Plot verwandeln zu wollen, in eine logische Abfolge von Schritten, vollzogen von Menschen, die scheinbar nichts als eine einzige, simple Triebfeder im Inneren haben, geeignet, eine Handlung leicht durchschaubarer Konflikte in Gang zu setzen? Nicht, dass ich nicht erwartet hätte, mich am Ende als grob gezeichnete Nebenfigur in deinem Binsenburger Plot wiederzufinden, als subalterne Randfigur im Umkreis des Professors. Es stimmt auch, dass ich meinen subalternen Dienst gleich nach der ersten Nacht im Haus von Dr. Lenz angetreten habe, ein schlechtes Frühstück inklusive. Auch bezweifle ich nicht, dass der Doktor meine Rolle in der Tat darauf hatte beschränken wollen, als Briefbote zwischen ihm und Hinrich Giers zu fungieren. Ich war jedoch weit davon entfernt, mich in dieses Rollenkonzept zu fügen. Schon als ich zu meinem ersten Botengang antrat (mit einem Packen von Briefen in der Umhängetasche), war ich zuversichtlich, mich bald in einer Position zu befinden, in der weit mehr der Doktor auf mich angewiesen sein würde als ich auf ihn. Zumal er gar nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein schien, mich als Vermittler einzusetzen. Ohne dass er mir Einzelheiten mitgeteilt hätte, musste jemand anderer ihm diese Lösung nahegelegt haben. Ein Umstand, der meine Phantasie an diesem Morgen beflügelte. Jedenfalls war ich entschlossen, die Dinge weit mehr zu meinen Gunsten zu beeinflussen, als Dr. Lenz womöglich recht sein würde.

      Ich genoss den freundlichen Frühlingsvormittag und lief auf menschenleeren Straßen ins Tal hinunter. Es war dabei in Binsenburg offenbar eher unüblich, sich von den höheren Lagen des Ortes zu Fuß in die Stadt hinunterzubegeben. Überhaupt schien man das Grundstück kaum jemals unmotorisiert zu verlassen. Gelegentlich rauschten gewaltige Geländewagen auf der kleinen Straße an mir vorüber, schwarzen Särgen nicht unähnlich. Sofern ich hinter Hecken oder in den noblen Hauseingängen überhaupt jemanden zu Gesicht bekam, schien es mir, als würde ich nicht ohne Misstrauen beobachtet. In der Gewissheit ihres Besitzes waren die Bewohner dieser Stadt offenbar ganz bei sich selbst, als ob jede Form der Öffentlichkeit für sie zu existieren aufgehört hätte und allenfalls ein Fremder diesen Eindruck gelegentlich stören konnte. Eine Form der Selbstverkapselung, die ich nicht weiter verurteilenswert fand, zumal die Daseinsform dieser Stadt offensichtlich dem großen Philosophen zu einer letzten Kraftanstrengung diente.

      Nachdem ich die Allee erreicht hatte, hielt ich mich in Richtung der Innenstadt und bog nach kurzer Strecke zur Stadtkirche ab, deren weiße Zuckertürmchen schon aus der Ferne über den Baumkronen zu sehen waren. Wie mich Dr. Lenz hatte wissen lassen, residierte Hinrich Giers auf der anderen Seite des Talkessels, auf jener terrassierten Anhöhe, die Paradies genannt wurde und zu den vornehmsten Wohnlagen der Stadt zählte. Eine aus Granitsteinen gemauerte Stiege führte direkt dort hinauf. Ich nehme an, dass du diesen verborgenen Weg nie kennengelernt hast. Die von Moosflecken durchschossenen Steine werden gesäumt von prachtvollen alten Hecken. Dahinter ragen die erdfarbenen Giebelwände einiger Häuser auf der Halbhöhe empor. Man geht unter Bäumen, nicht ohne Mühe, die steilen Stufen hinauf. In stumpfen Winkeln schmiegen sich die Treppenabschnitte an den Hang. Man läuft durchweg im Schatten, beinahe in Finsternis, ohne Aussicht auf die Stadt, als ob man im Begriff sei, sich Zugang zu einer verborgenen Welt zu verschaffen.

      Erst weiter oben quert die Stiege an mehreren Punkten die stillen Straßenterrassen, tritt man plötzlich in die Helligkeit. In den Gärten blühte bereits der Flieder. Die Sonne schien angenehm warm, und es waren deshalb durchaus keine unangenehmen Gefühle, mit denen ich an die überraschenden Neuigkeiten zurückdachte, von denen mir Dr. Lenz berichtet hatte. Erst von ihm habe ich erfahren, dass sich seit einiger Zeit auch Julian Fleig in der Stadt aufhielt und auf dem Paradieshügel sogar ein Haus zu besitzen schien. Der Doktor hatte das mit großem Widerwillen erzählt. Er hegte gegen den Fernsehphilosophen eine tiefe Abneigung. Dabei mochte ein schlechtes Gewissen mitschwingen, seit er mit seinem Votum der Fleig’schen Universitätslaufbahn ein Ende gesetzt hatte, vielleicht auch Neid darüber, dass die Karriere des Fernsehphilosophen nach dem vermeintlichen Ende erst richtig begonnen hatte. Vor allem aber