Название | Der Philosoph |
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Автор произведения | Wilm Hüffer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373758 |
Ich versuchte mich zu konzentrieren und manövrierte den Kinderwagen auf ein Tor zu, das in eine hohe Gartenmauer eingelassen war. Lou hielt es auf, rot im Gesicht und etwas außer Atem. Als wir hindurchgegangen waren, lag zu unseren Füßen die Stadt, ein weißer, rings über das Tal und die Höhen gebreiteter Häuserteppich. Direkt unter uns fläzten die Villen auf den sanft absteigenden Terrassen des Paradieshügels. Im Tal leuchtete der altrosafarbene Turm der Marktkirche. Weiter hinten verlief das grüne Band der Binsenburger Allee. Die gegenüberliegenden Höhenzüge blickten etwas verdrießlich aus dem Dunst, darunter der Fichtenbuckel, auf dem der unglückliche Dr. Lenz residierte.
Wie gemacht schien das Panorama der hingebreiteten Stadt, um eine Spielfläche des eigenen Lebens darin zu sehen. Für Lou offenbar der geeignete Moment, um mir zu bedeuten, dass sie sich durch unsere Situation an »Pique Dame« erinnert fühle – und ob ich das Rätsel dieser berühmten Erzählung von Puschkin begriffen hätte. Typisch Lou, auf solche Weise ein Gespräch zu eröffnen. Woher hätte ich wissen sollen, was ihr an dieser Geschichte rätselhaft erschienen war? Sie ließ sich Zeit, spannte das Verdeck des Kinderwagens über dem schlafenden Jungen auf und lachte, als sie meinen verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. »Hermann versucht den Kartentrick der alten Gräfin herauszufinden«, glaubte sie mich erinnern zu müssen. »Er schleicht sich bei ihrer Zofe ein und bittet sie, ihm Zugang bei der Gräfin zu verschaffen.« Ich nickte ungeduldig. Selbstverständlich kannte ich die Geschichte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Lou machte es spannend und schaute lange und versonnen auf die Stadt hinunter. »Bis zum Schluss weiß man nicht: Liebt er Lise, die Zofe? Hofft er auf den großen Spielgewinn, weil er mit ihr durchbrennen will? Oder spielt er ihr nur etwas vor, um an das Geld zu kommen?«
Ich muss gestehen, dass ich über diesen literaturgeschichtlichen Betrachtungen etwas den Faden verloren hatte. Auch verstand ich nicht, weshalb wir uns mit einer Geschichte von Puschkin hier oben so lange beschäftigten. »Wie auch immer«, murmelte Lou und blickte auf die Stadt hinunter, »am Ende benötigt jeder Hermann eine Lise, die ihm Zugang zur Gräfin verschafft. Jemanden, der ihm die Tür öffnet zur Kammer der Geheimnisse.« Sie drehte sich zu mir und ließ noch einmal ihre Augenbrauen spielen. »Ist es nicht ein komischer Zufall, dass ausgerechnet ich deine Lise zu sein scheine?«
18
Hinter den Verschanzungen seiner Umzugskartons saß am Abend desselben Tages Dr. Lenz und fand die Begebenheiten im Hause Schlierer erwartungsgemäß wenig erfreulich. Wie am Vortag berieten wir die Lage in der Einöde des Wohnzimmers. Dazu gab es Brötchen, die seit geraumer Zeit auf ihren Verzehr gewartet haben mussten, belegt mit Käsescheiben, die sich an den Rändern zu wellen begannen. Teilnahmslos brütete der Doktor vor sich hin und schien sich damit im eigentlichen Element seiner Binsenburger Tage zu befinden.
Den schlimmsten Teil meines Berichts hatte ich mir bewusst für den Schluss aufgespart. Auf schonungslose Weise nämlich hatte Lou am Ende Klarheit zwischen uns hergestellt, schienen sich weitere Fragen nach ihrer Zofenrolle zu erübrigen. Sie selbst habe Hinrich Giers das Exil in der Villa Mögen verschafft, hatte sie mir auf den letzten Metern des Heimwegs anvertraut. Sie selbst habe den Professor vom Binsenburger Exil überzeugt, kaum dass sein Wunsch erkennbar gewesen sei, sich aus dem akademischen Leben zurückzuziehen. Das Gesicht von Dr. Lenz glühte vor Zorn, als ich ihm diese sensationelle Neuigkeit übermittelte. Er, der Ahnungslose, musste zur Kenntnis nehmen, dass sich eine Studentin, die ihn beinahe um seinen guten Ruf gebracht hatte, in Binsenburg als Türhüterin seines Meisters aufspielte. Im Bewusstsein seiner Ohnmacht muss ihm dies wie ein Anschlag der hinterhältigsten Sorte erschienen sein.
Dabei hatte alles so harmlos auf mich gewirkt, als Lou und ich von unserem Aussichtspunkt über einen schmalen Pfad zur unterhalb gelegenen Terrassenstraße gestolpert waren. Nur ein paar Schritte weiter hatten wir ein unscheinbares Haus erreicht, das sich an den Hügel schmiegte und mit den modernen, schuhkartonförmigen Villen auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht konkurrieren konnte. Die graue Farbe blätterte von der Front. Auf einem Anbau befand sich eine Terrasse mit einer Pergola, die mit wildem Wein bewachsen war. Zum Eingang im erhöhten Parterre führten ein paar Stufen hinauf. Neben dem Treppenfuß parkte ich den Kinderwagen. Lou nahm den Jungen, der die zitternden Glieder streckte und im Halbschlaf seine Ärmchen um sie schlang. Mit der freien Hand fingerte sie den Schlüssel aus der Hosentasche und erklärte, dass ich nun alles wüsste. Dann ging sie mit dem Jungen die Stufen hinauf, schloss die Tür auf und verschwand im Hauseingang, ohne sich verabschiedet zu haben.
Ratlos blieb ich stehen und fühlte mich nicht gerade wie ein Glücksspieler, der versucht hat, sich eine verliebte Zofe zu engagieren. Eher war mir, als sei ich soeben selbst engagiert worden – ahnungslos, worauf ich mich eingelassen hatte. Ein Gefühl, das sich kaum dazu eignete, Dr. Lenz daran teilhaben zu lassen. Vermutlich war ihm bewusst geworden, wie wenig er die Sphären noch überblickte, in denen sein Übervater mittlerweile verkehrte. Der größte Philosoph der Gegenwart, weggesperrt in eine Kleinstadtresidenz, abgeschirmt von einer Ex-Studentin, die beim Meister offensichtlich ein- und ausging und in unmittelbarer Nähe seines Hauses ihren Wachtposten bezogen hatte. Ich fragte mich, ob sich der Doktor überhaupt noch anders mit Hinrich Giers verbunden fühlen konnte als durch die Schriften, die in seinen Kartons verstaut waren und die Sicht nach draußen versperrten.
19
Noch immer war das Gesicht des Doktors feuerrot. Als er seinen Vogelkopf schließlich reckte und mich fixierte, glaubte ich bereits, das Ende meiner Mission sei gekommen. »Angenommen, Hinrich Giers würde für immer verstummen«, hob er an, »wäre das ein Verhängnis für Sie?« Mir war schleierhaft, worauf er mit dieser Frage zielte. »Ich meine, messen Sie dem Werk von Hinrich Giers irgendeine Bedeutung bei? Irgendeine besondere, lebensverändernde Bedeutung?« Noch heute weiß ich, wie hilflos ich mich fühlte, als diese Art der Examinierung begann.
Mir war nicht klar, dass der Doktor längst damit begonnen hatte, die Binsenburger Puzzlestücke neu zusammenzusetzen und zu prüfen, ob ich ihm in der veränderten Situation noch von Nutzen sein konnte. »Nun, was mich betrifft«, erklärte er, ohne meine Antwort abzuwarten, »so glaube ich, dass es in der Philosophie … um alles geht. Um alles gehen sollte.« Er blinzelte zur Decke. »Und am Ende ist alle Philosophie auf Selbsterkenntnis gerichtet.« Während der folgenden Sätze blieb der Vogelkopf zur Decke gerichtet, als würde der Doktor dort oben einen vorbereiteten Text ablesen. »Sie kann nicht weniger wollen als Selbsterkenntnis. Sie kann nicht früher aufhören als bei der Selbsterkenntnis. Oder bei etwas aufhören, was keine Selbsterkenntnis ist.«
Wie oft der Doktor diesen Gedanken wiederholt hat, weiß ich nicht mehr. Philosophie müsse auf Selbsterkenntnis gerichtet bleiben, dürfe sich mit weniger nicht zufriedengeben, dürfe dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren und so weiter. »Es ist mir gleich, was dabei herauskommt«, rief er schließlich und fuhr sich durch die aufgerichteten Haare, »soll die Reflexion aussehen, wie sie mag. Ob Sie glauben, wir seien Bewohner platonischer Höhlen, Sprachspieler, seinsvergessene Lemuren vor dem Weltende oder Mietnomaden in sozialen Treibhäusern. Es ist