Название | Der Philosoph |
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Автор произведения | Wilm Hüffer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373758 |
Deshalb will ich dir gar nicht verübeln, dass Gerüchte über seine Verfehlungen Anziehungskraft auf dich ausgeübt haben, zumal bei deiner Neigung, den Grund des Daseins in den Dunst von Leidenschaft und Eitelkeit zurückzuverlegen. Ich war ja selbst davon fasziniert, als ich dich kennengelernt habe. Eine Frau, nur wenige Jahre älter als ich, die ihre Finger entschlossen nach dem Herz der Finsternis ausstreckte und vor niemandem haltgemacht hätte, schon gar nicht vor einem hohen Repräsentanten des Geisteslebens wie Hinrich Giers. Wie befremdlich muss dir noch heute meine Behauptung erscheinen, dass dieser Mann in der Lage wäre, uns aus den Verirrungen unseres modernen Menschseins herauszuhelfen. Dass Selbsterkenntnis möglich ist, wie er oft genug betont hat. Dass wir uns aus dem Verhängnis befreien können, in das wir uns reflexionslos verirrt haben. Schon während seiner letzten Vorlesungen habe ich ihn diese Sätze sagen hören. Und ich bin überzeugt, dass er damit den Widerspruch skizzieren wollte, in den er seinen Aufklärungswillen zur Welt gesetzt sah. Wen hätte er schließlich noch erreichen sollen im Reich der Selbstvergessenen, auf dem Terrain der innenverspiegelten Paläste, der unerreichbaren Kommunikationsblasen und Echokammern? Wie hätte dieser alleingelassene Mann mit dem Unwillen zur Selbsterkenntnis zurechtkommen sollen? Er, der diesen Unwillen für die Krankheit der Gesellschaft hielt? Konnte aus seiner Einschätzung etwas anderes als Lebensekel erwachsen? Eine womöglich etwas bombastische, selbstgerechte Abwendung von der Welt? Und war es gänzlich abwegig zu fragen, ob dieser Ekel heilbar sei?
5
Irgendwann hätten wir offen miteinander sprechen sollen. Kannst du dir erklären, weshalb wir das nicht getan haben? Zweifellos waren wir im Frühjahr aus unterschiedlichen Gründen nach Binsenburg gekommen, sind daraus unsere Missverständnisse erwachsen. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Entwicklung vermeidbar gewesen wäre – sofern du dich nur etwas zugänglicher gezeigt und an deiner Geschichte nicht so verbissen festgehalten hättest. Bis heute muss ich mit den Folgen dieser Uneinsichtigkeit zurechtkommen, setzen manche Leute auf der Binsenburger Allee ein spöttisches Lächeln auf, wenn sie an mir vorübergehen, halten mich noch immer für eine jener zwielichtigen Gestalten, die du in deinen Reportagen beschrieben und von denen du behauptet hast, dass sie den Professor in seinem Exil abgeschirmt und in seinen seltsamen Neigungen bestärkt hätten. Darüber bin ich nicht deshalb so verärgert, weil es dem Ansehen meiner Person abträglich wäre (das berührt mich selbstverständlich nicht im Geringsten), sondern weil es den Blick auf die wahren Geschehnisse verstellt. In aller Bescheidenheit möchte ich feststellen, dass deren Bedeutung kaum jemand verstehen wird, der meine Rolle darin vernachlässigen zu können glaubt. Du wirst auf Dauer nicht ignorieren können, dass ich, anders als du, den wahren Gründen für das Schweigen des Professors auf die Spur gekommen bin. Folglich halte ich den Schlüssel zu den Geschehnissen in den Händen und frage mich, ob du wirklich annehmen solltest, daran so gleichgültig vorübergehen zu können.
Glaubst du noch immer, ich hätte mich mit dem Philosophen vor dir nur aufspielen wollen und sei in Wahrheit hinter einer alten Freundin her gewesen? Hast du wirklich geglaubt, ich sei nur nach Binsenburg gefahren, um Lou dort wiederzutreffen und sie Julian Fleig auszuspannen? Ich habe nicht einmal gewusst, dass die beiden dort waren. Mein einziges Vorhaben bestand darin, den exilierten Philosophen wieder zum Sprechen zu bringen. Ein verzweifeltes Projekt, für das ich dich damals vergeblich zu interessieren versucht habe. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Hinrich Giers von meiner Existenz jemals Kenntnis genommen hatte. Meine Hoffnungen gründeten einzig auf meiner Tätigkeit bei der »Sozialen Gesellschaft«, von der ich hoffte, er könne davon erfahren haben. Als Dr. Lenz mich eingestellt hat, konnte ich mit meinen vierundzwanzig Jahren weder ein Studium vorweisen noch hatte ich jemals philosophische Texte verfasst. Mehr als die Schreibarbeiten, die du mir während der Monate in deinem Büro übertragen hast, hatte ich nicht vorzuweisen. Bis heute weiß ich nicht, was mich in den Augen des Doktors für meine Tätigkeit qualifiziert hat, ebenso wenig, was mich bei der »Sozialen Gesellschaft« erwartete.
Ich erinnere mich einzig an den kleinen Schlag, den ich verspürt habe, als ich im Text der Stellenanzeige auf den Namen des Herausgebers gestoßen bin. Aber das war auch alles, was mit Lou zu tun gehabt hatte. Zugegeben, der Name Hinrich Giers war so etwas wie eine Chiffre für mich gewesen, hatte die Erinnerung an die Trennung von Lou wieder wachgerufen, Verständnislosigkeit und Zorn eingeschlossen. Allerdings wäre es ganz übertrieben zu meinen, dass ich nur deshalb bei Hinrich Giers eine Beschäftigung gesucht hätte (wie du unweigerlich vermuten wirst). Viel zu weit war der Arbeitsalltag der »Sozialen Gesellschaft« von den alten Verletzungen entfernt, als dass ich mir von meiner Beschäftigung irgendeine Art der Aufklärung hätte versprechen dürfen. Allenfalls eine gewisse Faszination habe ich verspürt, nun auch selbst in die Nähe jenes Mannes zu gelangen, dessen geistige Anziehungskraft Lou aus meinem Leben entfernt und dort für so viel Leere und Belanglosigkeit gesorgt hatte. Es mag die Sehnsucht darin verborgen gelegen haben, mich von demselben Schwarzen Loch anziehen zu lassen, das kurz zuvor meine Freundin verschluckt und damit jede tiefere Absicht aus meinem Leben entfernt hatte. Was für eine merkwürdige Aussicht, habe ich damals gedacht, mich aus der Peripherie direkt ins Zentrum meiner Misere zu bewegen.
6
Ich fürchte, an dieser Stelle sind einige klärende Sätze zu Lou unumgänglich. Du wirst hoffentlich Verständnis dafür aufbringen, dass ich meine diesbezüglichen Hinweise so knapp wie möglich zu halten versuche. Neuen Spott von deiner Seite möchte ich mir jedenfalls ersparen. Schon damals hast du mich mit meiner »schöngeistig« veranlagten Freundin aufgezogen und oft genug während unserer Bürozeiten oder bei dir zuhause, wenn wir uns in dein Bett verirrt hatten, gefragt, wie man seine Lebenszeit mit philosophischen Theorien vergeuden könne. Nicht dass ich mir diese Frage nicht ebenfalls gelegentlich gestellt hätte. Ich hatte damals keine Ahnung, weshalb Lou solchen Themen derartige Bedeutung beimaß. Dass die Werke von Hinrich Giers im Mittelpunkt unserer (eher körperlichen) Interessen gestanden hätten, lässt sich jedenfalls nicht behaupten.
Von Beginn an hatte Lous Studium der Giers’schen Werke eher einen Schatten der Fremdheit über unser Verhältnis gelegt, hatte ich zu den geistigen Sphären, von denen sie berührt zu werden schien, keinerlei Verbindung aufnehmen können. Und auch sie selbst hatte das mit zunehmender Ungeduld beobachtet, nicht verstehen können, dass ich gegen meine Widersprüche eher unempfindlich gewesen war, kein Interesse an philosophischer Reflexion gezeigt habe, die Anstrengung nicht auf mich nehmen wollte, mein Leben einer klaren Absicht zu unterwerfen. Lou hätte sich vermutlich gewünscht, im Bewusstsein gemeinsamer Pläne einen siegesgewissen Blick in die Zukunft werfen zu können. Dass es mir genügte, sorglos meine Tage mit ihr zu verbringen, am Morgen den Bademantel überzuwerfen und lange nichts zu tun, als ihre ruhig im Schlaf ausgestreckte Gestalt zu betrachten, war eine Form der Hingabe, die sie eher als kränkend empfunden hat. Sie konnte nicht leben ohne die Aussicht auf permanente Entwicklung. Hindernisse räumte sie mit großer Entschlossenheit beiseite.
Unverstellt hat sich diese Neigung bemerkbar gemacht, als ich von ihr längst getrennt und mit Julian Fleig ein Mann an ihre Seite getreten war, der ihrer geistigen Orientierung weit besser zu entsprechen schien. Wohl nie zuvor hat sich an der philosophischen Fakultät in Frankfurt eine Studentin derart selbstverleugnend vor ihren Liebhaber geworfen. Jahrelang hatte Julian Fleig an der Universität als bester Schüler von Hinrich Giers gegolten. Begeisternd muss er Lou erschienen und umso größer ihr Schreck gewesen sein, als die überraschend schlechte Benotung der Doktorarbeit seiner akademischen Karriere ein jähes Ende setzte. Dass Julian Fleig seinem Lehrer seither mit unversöhnlichem Hass begegnet ist, dürfte nachvollziehbar sein. Doch der Furor, den Lou damals entfachte, war unvergleichlich. Geradezu schamlos hat sie das Gerücht verbreitet, Dr. Lenz (der an dem Votum nicht unbeteiligt gewesen war) habe aus Neid eine der aussichtsreichsten Karrieren an der Fakultät zerstört. Dr. Lenz, dieser lächerlich korrekte Mann, der sich gegen solche Vorwürfe mit Worten nicht wehren, sich andererseits die kleinste Ungenauigkeit nicht verziehen hätte, sollte mit Vorsatz einen Rivalen aus dem Weg geschafft haben? Mitunter scheint mir