Название | Der Philosoph |
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Автор произведения | Wilm Hüffer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373758 |
Gelacht hast du darüber und damit begonnen, deine simple Geschichte zu montieren. Unbedingt wolltest du mir beweisen, dass vom Nimbus des großen Philosophen nichts übriggeblieben sei. Ein Vorsatz, von dem ich mich frage, ob er für dich zur Frage einer existentiellen Selbstbehauptung geworden ist. Warum sonst hättest du alle Grenzen überschreiten, deine Recherche ins Innerste unserer gemeinsamen Vergangenheit verlegen sollen? Was du dir damit beweisen wolltest, habe ich bis heute nicht begriffen. Ich bedaure jedenfalls, dass ich dich damals nicht selbst gefragt habe, weshalb du hier seist. Auf deine Erwiderung wäre ich gespannt gewesen. Als Lou mir diese Frage gestellt hat, war ich viel zu überrascht, um eine durchdachte Antwort zu geben. Ich brachte am Ende nur einen Satz heraus: »Dr. Lenz hat mich geschickt.«
16
Die Schlierers servierten auf der Terrasse Kaffee für uns. Selten habe ich mir derart viele Fragen gestellt. Weshalb Lou hier war. Was sie mit den Schlierers zu schaffen hatte. Wo Hinrich Giers war und weshalb er sich von diesen furchtbaren Leuten beherbergen ließ. Hilflos saß ich neben Lou im vollen Sonnenschein auf der Terrasse der Villa Mögen. Der Artillerist hatte uns genötigt, auf schweren, weißlackierten Gartenstühlen Platz zu nehmen, von denen noch weitere rings um einen ovalen, weißlackierten Holztisch gruppiert waren. Das Kopfsteinpflaster der Terrasse wanderte in halbrunden Bögen zu den kurzgeschorenen Rasenflächen hinaus. Hinter kniehohen Natursteinmauern grüßten freundlich sprießende Hortensienstauden. Ein fein gestreuter Kiesweg führte von der Terrasse in den Park hinunter und verlor sich unter Bäumen im hinteren Teil der Anlage. Nichts regte sich. Kein Vogel schlug an, keine Biene flog vorbei, kein Schmetterling flatterte vorüber. Die Sonne stach, und ich starrte auf den Kaffee in meiner Tasse.
Der Junge stand zwischen uns, schmiegte sich an Lous Oberschenkel und riskierte gelegentlich einen Blick zu mir herüber. Lou beschäftigte ihn mit harmlosen Spielchen, ließ ihre Finger auf ihm herumkrabbeln oder versteckte sich hinter ihren Händen. Dankbar kicherte der Kleine, während ich verzweifelt schwieg. Mit alberner Beflissenheit schaufelten die Schlierers das Kaffeegeschirr auf den Tisch. Aus einer Silberkanne schenkte Frau Schlierer ein. Mit demonstrativer Diskretion verschwanden die beiden dann im Haus, als ob sie unsere Gespräche nicht stören wollten.
»Er ist mein Onkel, sie meine angeheiratete Tante«, erklärte Lou, kaum dass die blonden Mähnen hinter den Scheiben der Terrassentür verschwunden waren. Dass es bei dieser dürftigen Erklärung blieb, ließ mich erstmals befürchten, dass Lou in meinen Binsenburger Angelegenheiten eine weitaus bedeutendere Rolle spielte, als mir lieb sein konnte. Fast unmittelbar musste ich an die Tage nach unserer Trennung denken, an den Schmerz darüber, wie gleichgültig sie sich aus meinem Leben davongestohlen hatte, ohne jedes erklärende Wort, ohne jedes weitere Lebenszeichen. Nun benahm sie sich, als ob aus unbekannten Gründen damals ich selbst verlorengegangen und unverhofft, wie ein lang verschollener Kriegsgefangener, zurückgekehrt sei. Auf seltsame Weise schien sie mir zugewandt, mit einer inneren Ruhe in mich versunken. Selbst ihre Fragen klangen versöhnlich – obschon sie nicht minder drängend waren als früher.
Dr. Lenz habe mich geschickt, begann sie (und bemühte sich, den Namen Dr. Lenz möglichst neutral auszusprechen). Was der Doktor vorhabe. Niemals wäre sie zufrieden gewesen, ehe sie nicht klare Antworten erhalten hatte. Um mich nicht von vornherein um eine weitere Einladung bei den Schlierers zu bringen, entschied ich mich zu der höflichen, aber möglichst kompakten Auskunft, Hinrich Giers über die Vorgänge in der »Sozialen Gesellschaft« auf dem Laufenden halten zu wollen. »Was geht dich die ›Soziale Gesellschaft‹ an?«, verlangte Lou zu wissen und schaute mich freundlich an. Niemals hätte ich ihr den Gefallen getan, die Wahl dieses Arbeitgebers auch nur im Entferntesten mit dem Ende unserer Beziehung in Zusammenhang zu bringen. Ich glaubte stattdessen, Lou gefahrlos an die Faszination erinnern zu können, die sie selbst für Hinrich Giers immer empfunden hatte. Dass auch sie mich für seine Werke damals zu begeistern versucht habe, dass ich ihr nicht immer hätte folgen können, dass mir vieles unverständlich erschienen, mein Interesse später jedoch immer größer geworden sei, ich nicht gedacht hätte, jemals so viel Freude an der Giers’schen Philosophie zu entwickeln, dass ich ein Giersianer geworden und meine Tätigkeit für die »Soziale Gesellschaft« insofern nur noch eine Formsache gewesen sei.
Lou hörte reglos zu und runzelte etwas die Stirn, während sie dem Jungen über die Haare strich und hin und wieder einen Kuss darauf drückte. Ihre letzte Frage folgte prompt und wirkte nach meiner wortreichen Erklärung etwas frostig. »Wieso schickt Dr. Lenz ausgerechnet Dich? Weshalb niemand anderen?« Sie schaute mich unverwandt freundlich an, lächelte und ließ ironisch ihre Augenbrauen spielen. Noch ahnte ich nicht, was für ein boshafter Scherz diese Frage gewesen war.
Haus Louisa
17
Mein erster Besuch in der Villa Mögen endete, ohne dass ich Hinrich Giers angetroffen hätte. Lou erhob sich etwas brüsk aus ihrem Gartenstuhl und nahm das für ihn bestimmte Briefpäckchen an sich, mit dem Versprechen, es ihm bei nächster Gelegenheit auszuhändigen. Unweigerlich meldete sich die beklemmende Frage zurück, welche Rolle sie hier oben eigentlich spielte. Einzig aus der Hoffnung, eine Antwort darauf zu erhalten, akzeptierte ich schließlich Lous Angebot, sie auf dem Heimweg zu begleiten. Dass es zu keiner förmlichen Verabschiedung von den Schlierers kam, trübte meine Hoffnung auf weitere Besuche in der Villa Mögen, doch ich wusste nicht, was ich daran hätte ändern können.
Lou setzte den Jungen in einen Kinderwagen, der neben der Terrassentür stand, und bat mich zu schieben, als wir den abschüssigen Kiesweg hinuntergingen. Der Kleine lehnte sich im Sitz zurück. Bald fielen ihm die Augen zu. Lou schlenderte neben mir und stemmte die Hände in die Hüften. Sie wirkte müde, ihr Lächeln abwesend. Ohne dass ich Gründe dafür hätte nennen können, schien es mir, als ob sie nach Erholung von einer ungeheuren Anstrengung suchte. Ich hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken. Weitaus Wichtigeres war zu bereden. Und obschon ich selbst nicht recht wusste, weshalb die Wahl von Dr. Lenz auf mich gefallen war, hatte ich doch, wie ich erklärte, eine klare Vorstellung vom Zweck meines Hierseins. Eine Bemerkung, über die sie sofort zu lachen begann. »Welche Vorstellung hast du denn vom Zweck Deines Hierseins?«, fragte sie mit der üblichen Wellenbewegung ihrer Augenbrauen. Ich rang um eine Antwort, während wir die Rhododendrengebirge passierten und einen großen Obstgarten erreichten. Mehrere Apfelbäume standen in weißer, vorsichtig tastender Blüte. Sie waren alt, aber gründlich beschnitten. Die Kronen waren nach oben und unten ausgedünnt. Die mittleren Zweige strebten mächtig in die Breite, wie Tischplatten, die sich an den Enden berührten. Sie bildeten ein durchlässiges Dach über uns. Der Obstgarten, von Rhododendren und Hecken gesäumt, schien einen weiten Bogen um das Haus zu beschreiben. Kugelförmig geschnittene Johannisbeersträucher meine ich gesehen zu haben, Wildblumenbeete und ausgedehnte Rabatten mit Himbeeren.
Auf irgendeine Weise muss ich wohl versucht haben, die Philosophie von Hinrich Giers mit diesem Bild einer freundlich zugerichteten Natur zu vergleichen. Dass mir zu spät klar geworden sei, worin die Faszinationskraft des Giers’schen Werks bestehe (Lou hatte mich, wie gesagt, vergeblich dafür zu interessieren versucht). Dass ich viel zu spät begriffen hätte, wie wichtig Selbsterkenntnis sei (Lou hatte mir das, wie gesagt, stets als Versäumnis angekreidet). Dass ich auf irgendeine Weise hätte nachholen wollen, was ich ihr damals schuldig geblieben sei. Und ich kann mich noch erinnern, dass ich verwundert war, wie schnell ich das alles unter dem Dach der Apfelbäume vorgebracht habe – fast so, als ob ich mir vorgenommen hätte, Lou davon tatsächlich bei passender Gelegenheit zu berichten. Es war noch nicht einmal die Unwahrheit. Schließlich war ich nicht nach Binsenburg gekommen, um Hinrich Giers zu begreifen, sondern Giers gefolgt, um Lou selbst zu enträtseln, das eigentliche Rätsel meines Lebens. Das jedoch hätte ich ihr schwerlich nahebringen können, hier, im Obstgarten der Villa Mögen, kaum zwei Stunden, nachdem wir uns wiederbegegnet waren. Wozu auch? Aufklärung über mich selbst war alles, was ich mir in Binsenburg gewünscht habe. Eine letzte Tür wollte ich aufstoßen, die mich in die Klarheit der Selbsterkenntnis führen würde.