Der Philosoph . Wilm Hüffer

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Название Der Philosoph
Автор произведения Wilm Hüffer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947373758



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       Kapitel 49

       Kapitel 50

       Kapitel 51

       Kapitel 52

       Kapitel 53

       Kapitel 54

       Kapitel 55

       Kapitel 56

       Galerie Giers

       Kapitel 57

       Kapitel 58

       Kapitel 59

       Kapitel 60

       Kapitel 61

       Kapitel 62

       Kapitel 63

       Kapitel 64

      Binsenburger Allee

      1

      Du solltest mich nicht missverstehen: Ich schulde dir nichts. Schon gar nicht diesen Bericht – nach der Katastrophe von Binsenburg. Zwar gäbe es viel zu sagen. Sehr viel. Doch nachdem ich alles gründlich durchgegangen bin – meine sämtlichen Notizen, meine Berichte, meine Aufnahmen –, werde ich mich kurzfassen, nur das Allerwichtigste notieren. Mehr dürftest du von mir kaum verlangen können – nach allem, was geschehen ist. Zu tief sitzen manche der Verletzungen, die du mir zugefügt hast. Ich schreibe lediglich in der Hoffnung, dass du an der eingetretenen Situation noch etwas ändern kannst. Dass du bereit bist, eine gewisse Form der Wiedergutmachung zu leisten. Nicht an mir, wie ich hervorheben möchte (es läge mir vollkommen fern, mich in den Vordergrund drängen zu wollen), sondern im Dienst an der Gesellschaft, die dank deiner Berichterstattung von allergrößter Dummheit verdüstert zu werden droht.

      Wären wir uns nicht zufällig in der herbstgoldenen Binsenburger Allee wiederbegegnet, hätte ich vermutlich gar nicht damit begonnen, diesen Bericht zu schreiben. Doch als wir uns gegenüberstanden, der Wind die Blätter aufwirbelte und ich zuerst gar nicht fassen konnte, dass du, die gefeierte Gesellschaftsreporterin, nach Binsenburg zurückgekehrt warst, stand auch alles andere wieder vor meinen Augen: der hoffnungsvolle Frühling in dieser Stadt, jene Wochen nie für möglich gehaltener geistiger Errungenschaften – und die Enttäuschung, das alles in den Schmutz falscher Verdächtigungen gezogen zu sehen.

      Vor allem war ich, wie ich zugebe, verärgert, dir diese widersprüchliche Empfindung nicht zumindest in wenigen Sätzen erläutern zu können. Es hat mich gequält, dein Mienenspiel zu beobachten, während ich, dein ehemaliger Praktikant, dein süßer Junge, nach den richtigen Worten gesucht habe. Wie du mich gemustert hast, mit diesem unterdrückten Lächeln, das die Überzeugung verriet, mich im Unrecht zu wissen und deshalb auf meine Klärungsversuche gar nicht angewiesen zu sein. Ja, es geschieht vermutlich aus einer gewissen Verärgerung, dass ich dir im Nachhinein ein korrektes Bild von dem zu vermitteln versuche, was ich hier in Binsenburg unternommen habe: nichts Geringeres, als den größten Philosophen unserer Zeit wieder zum Sprechen zu bewegen. Jawohl, ich habe Hinrich Giers davon überzeugen wollen, dass er nicht verstummen, unsere Zeit nicht ihrem Schicksal überlassen dürfe. Dass er zurückkehren müsse auf die Bühne unseres modernen Lebens. Dass er es nicht verantworten könne, sich seiner aufklärerischen Aufgabe zu entziehen und noch länger vor der Welt in Binsenburg zu verbergen.

      Wochen größter Anstrengungen habe ich in dieses Unterfangen gesetzt, und so viel möchte ich vorwegnehmen, dass du dir davon einen ganz falschen Eindruck, ja sogar die absurden Behauptungen zu eigen gemacht hast, die bis heute über den Philosophen verbreitet werden – in der offenkundigen Absicht, die Integrität seiner Persönlichkeit zu beschädigen. Es bleibt meine Hoffnung, dir diese gravierenden Fehler halbwegs einsichtig machen zu können. Zwar schweigt der Professor unverändert, das lässt sich nicht bestreiten. Doch wenn er von neuem das Wort ergreift, wird die Philosophie wieder zur Geltung gelangen, wird der moderne Mensch die überanstrengten Gebärden ablegen, mit denen er sich unaufhörlich wichtig zu machen und in den Mittelpunkt der Welt zu stellen versucht. Ist es vollkommen abwegig, sich von diesem Moment den Anbruch einer neuen Epoche der Weltgeschichte zu versprechen? Wäre es nicht versöhnlich, am Ende sagen zu können, wir beide seien damals, in Binsenburg, dabei gewesen?

      2

      Ich möchte es offen aussprechen: besonders hat mich verärgert, dass du bei unserer unverhofften herbstlichen Begegnung gleich wieder auf den Fleig-Skandal zu sprechen gekommen bist, jene Tage, in denen der Fernsehphilosoph auf offener Bühne seine Selbstvernichtung betrieben hat. Als ob der Streit zwischen ihm und Hinrich Giers der eigentliche Inhalt jenes Binsenburger Frühlings gewesen sei. Als ob ich dir nicht damals schon nahezubringen versucht hätte, wie falsch du damit liegst. Selbst unser Wiedersehen hast du genutzt, mich nochmals wissen zu lassen, dass dem Menschen großes Unrecht geschehen sei. Ja, welches denn?

      Glaubst du wirklich, Julian Fleig hätte auf Dauer seinen Nimbus als Zeitgeist-Guru aufrechterhalten können? Ein Aufschneider, der sich in seiner Sendung ungebremst verbreiten durfte, ohne jemals etwas Sinnvolles gesagt zu haben? Mag sein, dass er gemessen an seiner dürftigen Expertise eine Menge erreicht hatte. Dass es kaum jemanden gab, der damals nicht Fleig gelesen hätte, um mitreden zu können. Doch als er den wichtigsten Denker unserer Zeit herausgefordert, sich dazu verstiegen hat, Hinrich Giers ein Fernsehduell aufzwingen zu wollen, war mehr als absehbar gewesen, wie die Dinge enden würden. Was für eine Selbstüberschätzung dieses Blasebalgs, durch einen Sieg über den Philosophen die endgültige Meinungsführerschaft übernehmen zu wollen.

      Was ich damit zu tun habe, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist? Gar nichts. Als ob es dazu irgendwelcher Anstrengungen von meiner Seite bedurft hätte. Er selbst hat das besorgt, mit seinen irreführenden Äußerungen. Selbst die Wohlmeinenden haben damals begriffen, dass der einzige Antrieb seines Lebens eine wahnhafte Fixierung auf Hinrich Giers gewesen war, die vergebliche Revolte des Schülers gegen den übermächtigen Meister, das übliche Drama der akademischen Welt, nichts weiter. Niemanden hätte das gekümmert. Allenfalls verwundert mich, wie er mit seinen Falschbehauptungen so schnell dein Interesse hat wecken können. Ein berühmter Philosoph auf Abwegen – war es so leicht gewesen, mit derartigen Hinterzimmer-Geschichten die Reporterin aus Frankfurt anzulocken, den neuen Star am Himmel der Gesellschaftsreportage?

      Dabei hast du mir doch selbst immer eingeschärft, nicht den vermeintlichen Sensationen hinterherzujagen. Hast mich ermahnt, mein Interesse auf die Person hinter den Ereignissen zu richten. Gleich am Tag unseres Kennenlernens, nachdem du mich in deinen Frankfurter Redaktionsräumen empfangen hattest. Überlegen hast du mich gemustert, deine Lesebrille lächelnd von der Nase gestreift, wolltest mein Praktikum gleich mit einer wichtigen Lektion beginnen – der noch viele weitere folgen sollten in den Tagen unserer Beziehung, von der ich mich bis heute zu glauben bemühe, dass es