Название | Die Zuschauer |
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Автор произведения | Nathalie Azoulai |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783966390217 |
In der Bahn nach Paris bleibt sein Vater stehen; um die Metallstange, die er fest an sich presst, hat er die Fahne gewickelt und darüber ein großes Blatt Packpapier geklebt. Er steht ebenfalls, dicht neben seinem Vater, ohne ihn zu berühren, und stellt sich vor, dass auch er eine in Schach gehaltene, eingerollte Fahne ist. Er schließt die Augen, sieht zwei parallele Geraden gen Himmel streben, einer ganz anderen Geometrie folgend als der zwischen ihm und seiner Mutter, wo die Linien sich kreuzen, vereinen, oft zusammenwachsen. Er weiß nicht, ob dieser Unterschied ihn freut oder bedrückt. Als sie durch die Stadt laufen, wirkt die Packpapierrolle wie eine dritte Gestalt zwischen ihnen, lang und stumm; sie erinnert ihn an die Stoffballen des Marché Saint-Pierre: mal wie in Ecken gedrängte Statisten, über und über mit Lamé und Pailletten geschmückt, mal wie nach einem Strandtag geschlossene Sonnenschirme, oder auch – der Gedanke kommt ihm zum ersten Mal – noch nicht entrollte Fahnen.
Am oberen Ende der Avenue des Champs-Élysées entfernt sein Vater langsam das Papier. Seine Hand zittert, noch nie hat er seine Finger so zittern sehen. Ab und an blickt er um sich, als würde gleich jemand auftauchen und ihm befehlen aufzuhören, alles wieder einzupacken. Er reicht ihm das Papierblatt, das er schon zerknüllen will, aber sein Vater bittet ihn, es zusammenzufalten, für die Rückfahrt könne es noch nützlich sein. In der Bahn ist das ratsamer, fügt er hinzu. Er faltet es ordentlich, einmal, zweimal, dreimal, klemmt es unter den Arm wie ein Buch oder ein großes Heft. Während er seinen Arm eng am Körper hält, streckt sein Vater einen Arm aus und schwenkt die Stange: Der Stoff wellt sich im Wind, ein so weißer Satin im fast kobaltblauen Himmel – so weiß, wie jener, den seine Mutter kaufen gegangen ist, schwarz sein wird.
Sein Vater wirft den Kopf nach hinten, schaut zu, wie das emporgestreckte Rechteck sich immer stärker wellt. Er verliert das Gleichgewicht, stürzt fast. Er hält ihn fest, streift flüchtig den Stoff. So einen hat er noch nie berührt, und er fragt sich, wo die Fahne die ganze Zeit bei ihnen aufbewahrt wurde, warum er sie nicht gesehen hat. Hast du sie gekauft oder anfertigen lassen?, traut er sich zu fragen. Gekauft natürlich. Hätte Maria nicht eine machen können? Nein, eine Fahne ist heilig, sagt er entschieden, weit mehr als nur ein Stofffetzen. Du bekommst sogar eine Geldstrafe, wenn du eine verbrennst. Ist gesetzlich verboten.
Es ist das erste Mal, dass sie sich über Fahnen unterhalten, obwohl die zwei Seiten darüber in seinem Wörterbuch seine Lieblingsseiten sind. Um das jeweilige Land zu erraten, verdeckt er die Namen mit dem Finger. Inzwischen kennt er fast alle auswendig. Wenn seine Mutter ihn bei seinem Spiel überrascht, erklärt sie jedes Mal, sie liebe die amerikanische Flagge über alles. Warum?, fragt er. Weil sie reicher verziert ist als die anderen, die vielen Sterne, die Streifen, wie Muster eines Kleidungsstücks. »Wir nehmen die Sterne vom Himmel, das Rot von unserem Mutterland, während die weißen Streifen zeigen, dass wir uns von ihm getrennt haben; weiße Streifen, die die Freiheit für die Nachwelt darstellen.« Wer hat das gesagt?, fragt sie. George Washington. Außerdem sieht man sie in allen Filmen, ich bin ganz einfach daran gewöhnt. »Während am 14. Mai 1948 die englische Fahne vom Mast herabsinkt, wird die neue in Azur gehisst, bauscht sich auf und flattert im Wind«, liest er weiter, bevor er das Wort »Azur« aufgreift. Heißt eine Farbe so? Seine Mutter zögert, es gibt Königsblau, Saphirblau, Kobaltblau, Marineblau, Türkis, Himmelblau, Denim, aber Azur … ich weiß nicht, ob man beim Schneidern von Azur spricht … ich werde Maria fragen. Das Wörterbuch gibt keine Auskunft darüber, wo seine Eltern an jenem Tag waren, ob sie loszogen oder vom Strand zurückkamen, ob sie zu Hause die neue Fahne ans Fenster hängten, ob man in einem Land leben und gleichzeitig die Fahne eines anderen schwenken kann.
Auf den Champs-Élysées wird sie von allen in die Höhe geschwenkt. Er weist seinen Vater darauf hin, dass manche aus Satin, andere aus Seide seien. Was macht das für einen Unterschied?, wundert dieser sich. Seide ist robuster als Satin, Maria sagt das die ganze Zeit, aber ich mag Satin lieber. Er merkt schon, seinem Vater wäre es lieber, wenn er schwiege, doch er muss sprechen, muss all den Blicken, die sich auf sie heften, etwas entgegensetzen, den Schaulustigen, die mal lächelnd, mal misstrauisch am Straßenrand stehen bleiben, um sie vorbeiziehen zu sehen, diese krausköpfigen, schnurrbärtigen Männer in Anzug und Krawatte oder nur, wie sein Vater, im Oberhemd mit hochgekrempelten Ärmeln und heller Hose – diese voranschreitenden Männer, die sich Gehör verschaffen, weiterrücken und in der Gruppe Konturen aufweisen, die mit denen der Franzosen nicht mehr ganz übereinstimmen. Seit dem Krieg hat man sie nicht mehr so vereint gesehen, vor allem nicht die hier, so dunkelhaarig und mit so typischen Zügen.
Seid ihr Araber?, fragt Pepito einmal.
Nein, antwortet er.
Aber ihr kommt doch aus einem arabischen Land?
Ja.
Über Dreißigtausend greifen die Worte des Generals auf, »unser Freund, unser Verbündeter«, diese Worte, die sie sieben Jahre zuvor kaum vernommen hatten, da er sie auf der Vortreppe des Élysée-Palastes gesprochen hatte. Er kann weder Frauen noch Kinder entdecken, bereut allmählich, mitgekommen zu sein. Warum hat sonst kein Vater sein Kind mitgenommen, obwohl heute schulfrei ist? Unter den Männern, denen sie begegnen, erkennt er vertraute Namen und Vornamen wieder, zwingt sich, ein wenig zu lächeln. Manche sagen zu ihm, sie seien so glücklich, ihn endlich kennenzulernen, sie hätten schon so viel von ihm gehört, von seiner Klugheit, den glänzenden Noten, in Mathe, Französisch, Geschichte und sogar Deutsch. Andere erklären, eine Kundgebung könne stets ausarten, vor allem diese, deshalb seien sie lieber allein gekommen. Sofort hat er das begierige Gesicht seiner Mutter vor Augen, bereit für den Marché Saint-Pierre, überglücklich, ihn ausnahmsweise los zu sein.
Denn auch wenn er sich nicht direkt beschwert hätte, wäre ihm doch zu warm gewesen, er hätte sich hinsetzen, sich ganz klein machen wollen, um zu verschwinden, nicht der einzige Junge zu sein, den die Mutter in einen Stoffladen mitschleppt; er hätte um Wasser gebeten, sich den Hals verrenkt, um die Uhrzeit an den Handgelenken der Verkäuferinnen abzulesen, hätte den daheimgebliebenen Pepito beneidet. Sicher, er hätte auch Marias Hände und die seiner Mutter beim Aufrollen, Befühlen und Betasten der Ballen beobachtet, wie sie die Stoffdrucke, die Durchsichtigkeit vergleichen, ihre flinken Finger wie Tierchen, die von einem Stoff zum andern hüpfen. Er wäre enttäuscht gewesen, dass sie nicht behutsamer vorgehen, zärtlicher über die Baumwolle fahren, über die Seide, den Krepp, die Spitze, den Twill, über alles, was mit Schildern benannt ist wie Richtungsanzeigen im Raum, und jeder Name ein Kampf zwischen Maria und seiner Mutter: Maria hat woanders einen Stoff entdeckt und geht ihn unter den wütenden Blicken der Verkäuferinnen holen, die es