Die Zuschauer. Nathalie Azoulai

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Название Die Zuschauer
Автор произведения Nathalie Azoulai
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966390217



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nicht unlieb ist, wenn sie ihre unterwürfige Zurückhaltung ablegt –, aber sie wiederholt das Wort »schamlos«. Seine Mutter kränkt es eher, mit einer Kellnerin verglichen zu werden als mit einer schamlosen Frau, und so bekräftigt sie: Die MGM hat all das Weiß verwendet, um die Sündhaftigkeit der Heldin herunterzuspielen, immerhin hat sie ja nicht Lana Turner selbst, sondern ihre Tochter des Mordes bezichtigt. Maria schweigt. Denken Sie, was Sie wollen, ich will genau das gleiche, spricht sie entschieden weiter. In Weiß? Ja, in Weiß. Haben Sie sich denn auch etwas zuschulden kommen lassen?, fragt Maria. Weil es in Rosa oder Grau schon weniger nach Kellnerin aussehen würde … Für Schwarzweiß spielen die tatsächlichen Farben sowieso keine Rolle, sagt Maria noch, der langsam die Argumente ausgehen. Man erhält grau, beige oder sogar rot, wenn man man weiß in Tee oder Kaffee tunkt. Woher wissen Sie das alles, Maria? So was weiß man eben im Schneiderhandwerk. Pepito bewegt sich neben ihm, behutsam, die Brust vor Stolz leicht geschwellt. Arbeitet deine Mutter wirklich als Schneiderin?, fragt er. Wem außer meiner Mutter schneidert sie denn noch Kleider? Zig anderen Frauen. Er fragt weder nach Namen noch nach Zahlen, glaubt, dass Pepito wichtigtut. Tee oder Kaffee! Und was ist mit Jezebel, als Bette Davis auf ihrem Ball mit rotem Kleid erscheint, anstatt Weiß zu tragen wie alle anderen Debütantinnen, meinen Sie, sie trägt da ein weißes, in Kaffee getunktes Kleid? Kann schon sein, stammelt Maria. Das ist furchtbar ungerecht, weil Henry Fonda sie deswegen ablehnt. Ich mag gar nicht daran denken, eine so große Schauspielerin, gezwungen, in einem schmutzigen, besudelten Kleid zu spielen, das noch dazu klatschnass ist … Andererseits ist mir das vielleicht sogar lieber, in Technicolor hätte ich Bette Davis ungern in einem echten roten Kleid gesehen … Ein Grund mehr, warum ich ein reines, unbeflecktes Weiß will; ich wüsste ja gern, was Sie gegen diese Farbe haben. Nichts, aber Weiß ist eine Farbe für junge Frauen. Aber ich bin eine junge Frau, Maria!, ruft sie mit schriller Stimme. Als der Film 1946 anläuft, bin ich noch nicht mal verheiratet. Also, wie viel Zeit brauchen Sie? Mein Mann sagt, wenn sie den Krieg gewinnen, werden wir das feiern, ich muss also bereit sein. Ein Krieg kann dauern, den gewinnt man nicht einfach so, murmelt Pepito. Die Ziernähte, betont Maria, sind viel Arbeit. Ich frage mich ja, ob man nicht doch zwei Taschen bräuchte, zögert seine Mutter. Dann wird es noch mehr Arbeit, antwortet Maria. Nein, das geht nicht, es muss wirklich sehr schnell gehen. Dann gehen Sie eben in ein Geschäft!, sagt Maria ärgerlich. Auf gar keinen Fall!, ruft sie entrüstet, drüben kam unsere Schneiderin um acht Uhr morgens, und um vier Uhr nachmittags war mein Kleid fertig. Ich zähle auf Sie, Maria, vier, fünf Tage, mehr nicht.

      Dann fällt die Tür zu. Er schreckt auf. Bleib noch ein bisschen, sagt Pepito und legt eine Hand auf seinen Arm.

      Nein, ich gehe wieder nach oben.

      Wenn sie diesen Krieg gewinnen, hört er schon an der Wohnungstür – die sie nicht schließt, weil sie weiß, dass er ihr folgt –, kaufe ich dir dein Traumkleid. Seide, Satin, Musselin, was du willst! Wirklich?, fragt sie erstaunt über seine Großzügigkeit und gute Laune, obwohl er es doch hasst, mit der Kleinen lange allein zu bleiben, und sich für gewöhnlich, wenn sie wieder nach oben kommt, beschwert oder im Schlafzimmer verschwindet.

      Sie hockt sich neben sie auf den Teppich, richtet ihr Bein, reibt die Lippen leicht an ihrer Wange und murmelt: Dein Vater wirkt zufrieden. Ist er am Ende sogar seine Schreckgespenster los? Auch gegenüber der Kleinen sagt sie nicht Papa, obwohl sie beginnt, genau diese zwei Silben zu bilden, zu wiederholen. So kann sie sich vielleicht bis zum Wort vortasten, es gebrauchen wie jedes andere französische Kind auch. Er fragt sich, ob er es in diesem Alter ebenfalls gesagt hat, wie lange und bis wann … Aber natürlich, erwidert sein Vater. Wir werden ja sehen, was sie nach dem Krieg alle sagen, angefangen bei diesem Aaron. Aaron, wiederholt sie summend, Aaaron, mit fröhlicher Miene, wie belustigt angesichts der Feststellung, dass ihr Mann dessen Unbehagen auskostet, dass die Schwärze seiner Schreckgespenster ebenso unbestimmbar ist wie deren Größe. Er bückt sich seinerseits und nimmt auf dem Teppich Platz.

      Mein Traumkleid? Du hast wirklich mein Traumkleid gesagt? Dann wird es Gildas Etuikleid sein, Gilda Farrell, erklärt sie der Kleinen, 1933 von Lubitsch in Gestalt von Miriam Hopkins ins Leben gerufen, wiedergeboren 1946, und diesmal ist es Rita von der Columbia! Niemand weiß das außer mir … Warum erzählst du ihr das alles?, fragt er gereizt. Einfach so! Ich habe es letztens auch Pepito erzählt und ihm sogar gezeigt, wie Gilda tanzt, sagt sie und steht plötzlich auf. So … mit ihren Armen … ihren Handschuhen … über dem Kopf zu einer zarten Blütenkrone erhoben … leicht schlaff … sie wiegt sich in den Hüften … der Kopf leicht nach hinten geneigt … ihr langes Haar schwingt über den nackten Schultern … über ihrem Rücken. Er wagt es kaum, ihr zuzusehen. Du hast wirklich in deren Wohnzimmer getanzt?, fragt er, vor Pepito? Ja, also nur ein bisschen, antwortet sie und setzt sich wieder auf den Teppich, er aber springt auf, kneift seine Augen zusammen, um die Haut, die hellen Kleider seiner Mutter und Schwester verschwinden zu lassen und für ein paar Sekunden, am Fuß des Fernsehers, die Form eines einzigen Körpers erscheinen zu sehen, lang, röhrenförmig, mit Mundwerkzeugen und Zangen, ein flacher Gliederpanzer im Licht, ein schwarzes Schreckgespenst mit zwei Köpfen, das ihm noch lieber ist als diese aufrechte Silhouette, die sich unablässig vor Pepito schlängelt. Doch seine Vorstellung jagt ihm Angst ein. Er dreht sich um und geht auf seinen Vater zu.

      Gibst du mir später den Zeitungsausschnitt? Den Artikel von Aaron?, fragt er ihn. Warum? Doch kurz darauf, hier, da ist er, ich kenne ihn sowieso auswendig: »Wenn die Großmächte, dem nüchternen Kalkül ihrer Interessen gemäß, den kleinen Staat, der nicht meiner ist, der Zerstörung anheimgeben, wird dieses Verbrechen, das zahlenmäßig kein allzu großes ist, mir die Kraft zum Leben rauben.« Er schiebt ihn in die kleine Brusttasche, ganz nah an sein Herz, und flitzt in sein Zimmer. Seine Schwester krabbelt ihm durch den dunklen Flur hinterher. An seinem Bett angelangt, schaut sie zu, wie er sich bückt und den Zeitungsfetzen seinem Papierhaufen hinzufügt. Sie kann inzwischen mühelos unters Bett kriechen, kommt schneller und näher an seinen Schatz heran als er. Ihre kleinen Finger wühlen emsig darin herum. Mit Daumen und Zeigefinger greift sie eine Zeitschrift, zupft an der Ecke eines Fotos; behutsam nimmt er ihr beides weg.

      Seine Mutter verkündet, sie werde gleich morgen den schwarzen Satin für das Etuikleid kaufen gehen, sein Vater wiederum lädt ihn ein, zu einer Solidaritätskundgebung mitzugehen. Sein Satz ist wie eine Salve, die ihm keinen Raum zum Ausweichen lässt: Am Donnerstag hat er schulfrei; solange ein Krieg nicht gewonnen ist, kann man ihn verlieren, und sollten sie verlieren … Er spricht nicht weiter.

      Eine Gabelung, ein Delta tut sich in seinem Gedankenstrom auf: Mit seinem Vater auf die Champs-Élysées gehen oder seine Mutter zum Marché Saint-Pierre begleiten? In seinem Wörterbuch schlägt er Etui nach – ein Futteral, eine Hülle, in der auch ein Messer oder ein Dolch aufbewahrt werden kann. Die Expedition zum Marché Saint-Pierre erscheint ihm auf einmal nicht weniger männlich als der Krieg, und in der Dunkelheit seines Zimmers blitzt der Körper seiner Mutter auf, reckt sich spindelförmig, wie um gezückt, geschwenkt zu werden. Am nächsten Morgen begreift er jedoch, dass er keine Wahl hat, dass er seinem Vater keinen weiteren Grund zu der Anklage geben darf, er lebe unter den Röcken seiner Mutter, geschützt vor Licht und Tatendrang. Also sagt er, dass er mitkomme, fügt aber hinzu, er könne genauso gut mit der Kleinen zu Hause bleiben, falls ihnen das entgegenkäme. Kommt gar nicht infrage, erwidert seine Mutter. Aber Pepito darf doch auch! Das ist was anderes, Pepito muss nicht auf ein Baby aufpassen.

      Alle treffen sich unten vor dem Wohnhaus – selbst Pepito ist da, obwohl er sonst nirgends hingeht –, alle stehen sie auf den Stufen des Portalvorbaus, wie auf einem der Familienfotos, die er im Unterricht sieht, abgedruckt in den Geschichtsbüchern, Fotos voller Leute, treppenförmig aufgereiht vor alten Fassaden. Plötzlich bewegt sich seine Mutter, tritt aus dem Rahmen. Ohne dass sie ihn darum gebeten hätte, kommt Pepito allen zuvor und hilft ihr, den Kinderwagen der Kleinen die Stufen hinunterzutragen. Als der Wagen auf dem Bürgersteig steht, hebt er den Kopf, wischt sich die Stirn, die roten Backen. Betty Boop! Du siehst aus wie Betty Boop, Pepito!, ruft sie. Du kennst Betty Boop nicht, stimmt’s? Das ist eine Zeichentrickfigur aus den Dreißigerjahren, das Gesicht ist an Clara Bow oder Helen Kane angelehnt … ach, ich kann mich nicht erinnern, ist schon so lange her, aber