Название | Die Zuschauer |
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Автор произведения | Nathalie Azoulai |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783966390217 |
So steigt Arons Satz schließlich in die Raumluft auf und lässt ein Bild entstehen, den kleinen Staat, der nicht meiner ist, Konturen aus Erde und Fleisch, zuckend wie ein lebenswichtiges Organ. Vom Flur aus, wo er sich versteckt, stellt er sich vor, wie das Herz seines Vaters am kleinen Schenkel seiner Schwester zu pochen beginnt, die es vielleicht spürt, ohne zu begreifen, was es ist, und Angst bekommt. Außer Atem setzt der Vater sie plötzlich auf dem Teppich zwischen ihren Spielsachen ab und schaltet den Fernseher ein. Er durchmisst weiter das Wohnzimmer, umkreist sie und befindet, dass dieser Aaron mit harten Bandagen kämpfe, dass es fast schon unangenehm sei, wie er mir nichts dir nichts alles auf den Tisch legt, seine Seele, sein Herz, und warum nicht seine … Wo kommst du denn her?, fragt er barsch, als er ihn wieder auftauchen sieht. Er wirft sich auf den Teppich, vergräbt den Kopf im Nacken seiner Schwester, antwortet nicht.
Über ihnen setzt das Deklamieren von Neuem ein, aber sie sehen nur das Ballett seiner Beine, zwei braune Stelzen, die sich hin und her bewegen, sich vereinen, sich überkreuzen, und sie manchmal streifen, als wären sie ein einziger geballter, grober und geschlechtsloser Körper. Das kommt davon, wenn man jahrelang einen auf großen Geist macht; lässt man sich erst mal gehen, dann richtig, tönt er. Er kann nicht sagen, ob sein Vater von der eigenen Feststellung erleichtert oder verärgert ist, zufrieden gestimmt oder entnervt. Er richtet sich ein wenig auf und fragt ihn. Die Beine erstarren für einen Augenblick. Du hast doch vom Krieg gehört, oder?, sagt sein Vater, sie müssen gewinnen. Er nimmt die Sorge, die Schärfe in seiner Stimme wahr, während er weiter an der zarten Haut riecht, am frischen Nacken, an den Locken seiner Schwester, die seine Wange kitzeln. Und können sie gewinnen?, wagt er sich vor. Sie müssen gewinnen!, entgegnet sein Vater. Er sieht, wie das Bein der Kleinen nach innen rotiert. Vorsichtig nimmt er es in die Hand und dreht es, bringt es wieder in Stellung, steht auf und sagt, er gehe zu Pepito.
An der Tür merkt er, dass das Bein nicht gehalten hat. Nimmst du sie nicht mit?, fragt sein Vater. Er zögert, er könnte sie überallhin mitnehmen, um sich nie von ihr trennen zu müssen, aber er schüttelt den Kopf, unterdrückt diese Anwandlung wie an jenem Tag, an dem seine Mutter mit der Kleinen im Arm aus der Klinik zurückkam: Er betrachtete die beiden von Weitem, wollte nichts überstürzen, verließ das Sofa nicht, auf dem er in Abwesenheit seiner Mutter die ganze Zeit allein gesessen hatte. So an ihre Brust geschmiegt, nimmt sie allen Platz in ihrem Herzen ein, dachte er für sich, und gleich darauf, dass sie mit ihr ihr Kleid schmücke wie mit einer Brosche – ein hübsches, dekoratives Accessoire. Seine Mutter wunderte sich, worauf wartest du noch? Komm deine Schwester begrüßen.
Er stand endlich auf, näherte sich mit plötzlich weichen Knien, weich wie diese kleine Fleischmasse, die er zwischen Tüchern entdeckte; er legte die Finger darauf, drückte sie hinein. Trotz der zwölf Jahre, die sie auseinander sind, begriff er, dass er und dieses wenige Tage alte Baby ein und denselben Fleischblock bildeten, urwüchsig, verschmolzen, alterslos, weder Mädchen noch Junge, weder von hier noch dort.
In Pepitos Zimmer bekommen sie alles mit, das Rattern der Nähmaschine, die Gespräche, das Reiben der Stoffe während der Anproben, denen sie natürlich nicht beiwohnen dürfen. Wenn ich nachts aufwache, lege ich mich drüben aufs Sofa, sagt Pepito. Meine Mutter setzt sich dort auch manchmal hin und näht im Schein ihrer kleinen Lampe. Am liebsten, fügt er hinzu, schlafe ich wieder ein, während sie in diesem Lichtkreis näht. Selbst wenn die Maschine rattert? Ja. Ich habe das Gefühl, das Kleidungsstück zu sein, der Stoff zwischen ihren Händen, weich und leicht, eine Baumwollhülle, ein Gespenst, das in der Luft schwebt, ich fühle mich geborgen. Sie legen sich aufs Bett, lauschen derart angestrengt, dass sie durch die Wand sehen können.
Cora, sagt sie beim Ablegen der Zeitschrift und des Stoffballens. 1946, mein Hochzeitsjahr. Aber für mich ist 1946 zuerst Coras Jahr – Im Netz der Leidenschaften –, und natürlich auch das Jahr von Gilda. Weit dahinter erst kommt meine Hochzeit. Seltsam, aber so ist das eben. Cora Smith ist Lana, Lana Turner. Schauen Sie, sagt sie und schlägt die Zeitschrift auf: Kleid aus weißem Krepp mit Schlüssellochkragen, kleiner Halsschleife, Taillengürtel über Tasche mit Ziernähten.
Ihre Beschreibungen stützen sich stets auf die Bildunterschriften, die sie übersetzt und auswendig gelernt hat. Sie verleiht ihnen Rhythmus, betont sie, spricht sie artikellos, wie abgefeuerte Salven. Es wäre ihm lieber, wenn sie weniger schwatzte und Maria sprechen ließe, aber sie macht weiter: In diesem Jahr wollten wir uns alle wie Cora anziehen, sogar ihren Badeanzug wollten wir, sehen Sie nur, wie wunderbar! Endlich äußert sich Maria: Das ist Sportkleidung, sagt sie kritisch. Stimmt schon, aber ist das nicht schick? Die Geschichte spielt in Kalifornien, und bei uns war es auch ein bisschen wie in Kalifornien, stellen Sie sich mal vor, was los war, als der Film angelaufen ist. In Filmen sind Schauspielerinnen selten gebräunt, und als wir Lana dann gebräunt in diesen so weißen Kleidern gesehen haben … Also wenn Sie mich fragen, ist diese Kleidung unsittlich, befindet Maria.
Pepito richtet sich auf, dreht sich zu ihm, der flüchtig die Augen öffnet. Die schweren Lider fallen ihm sofort wieder zu. Maria ist die Anstandsdame seiner Mutter, so, wie Pepito seine ist, im Viertel trennt sie die Spreu vom Weizen, erspart ihr unnützen oder heiklen Umgang. Ihm ist bewusst, dass die Eitelkeit seiner Mutter sich bisweilen durchsetzen kann, nach der Schule etwa, wenn sie ihn ganz in Schale geworfen abholen kommt, als wäre sie auf dem Weg zu einer Feierlichkeit, einem Fest, ihre Füße in Sandalen beim geringsten Sonnenstrahl, stets zu früh im Vergleich zu den anderen Müttern.
Als sie eines Nachmittags mit Maria vor dem Gitterzaun wartet und ein blaues Gürtelkleid trägt – das Maria mit dem Stolz der Ausstatter- und Kunsthandwerkerin betrachtet, stets versucht, eine Knitterfalte zu glätten, einen Abnäher zu korrigieren –, ist der Schuldirektor ihm und Pepito einen Schritt voraus und postiert sich vor den beiden Müttern. Senkt er plötzlich den Blick, weil sie schon kommen? Den nackten Beinen ausweichend, taucht er hinab zu den perlmuttschimmernden Zehennägeln in den blauen, zum Kleid passenden Sandalen. Für einen Moment ziehen die Fußspitzen seiner Mutter sämtliche Blicke an, bündeln sie, den Blick des Direktors, seinen, Marias, vielleicht Pepitos. Alle sind befangen, seine Mutter indessen redet weiter, wird immer mitteilsamer, ohne den Blick zu senken oder auch nur hinzusehen. Der Direktor klammert sich an ihre leichte, unbeschwerte Stimme und lässt den Blick wieder hinaufwandern, erregt, verwirrt, sekundenlang unfähig, sich zu beruhigen und den Faden seiner Lobrede wieder aufzunehmen, die er wie immer auf eine so glänzende, vorbildliche Schullaufbahn gehalten hat, ganz gleich, in welchem Fach. Auf dem Rückweg erklärt Maria, es sei noch zu kühl, um Sandalen zu tragen. Seine Mutter bestreitet das und fügt hinzu, dass diese arme Kim Novak welche anziehen wollte, um das graue Kostüm aufzulockern, das Hitchcock ihr in Vertigo aufzwang, doch Hitchcock lehnte rundweg ab und bezeichnete sie als schamlos. Ohne es deshalb gleich leid zu sein, begreift Maria abermals, dass sie nur scheinbar eine Anstandsdame ist und keinerlei Autorität genießt, nie auch nur eine dieser Eitelkeiten unterbinden wird, die sie verzweifeln und zugleich wahre Wunder vollbringen lassen.
Seit der Geburt seiner Schwester kommt sie nicht mehr an den Gitterzaun, aber sobald die Kleine laufen kann, verspricht sie, werde sie wieder da sein, um dem Lobgesang zu lauschen.
Übertreiben Sie nicht immer gleich, Maria! Ich finde Coras Sachen fantastisch. Vor allem dieses Kleid, mein liebstes. Ihr Handrücken klatscht auf die Zeitschriftenseite. Pepito und er wissen, dass die nun folgende Stille Marias Bedenkzeit ist, während der sie mit gekräuselter Stirn, gekräuselter Nase das Modell erneut beurteilt. Aber warum gibt es nur eine einzige Tasche?, fragt sie, zumal so groß und direkt am Gürtel … seltsam … wirklich seltsam … sieht fast aus wie eine Kellnertasche, ein ganzer Kellnerblock fände Platz darin. Eben, Cora ist Kellnerin! Sie haben wirklich ein gutes Auge, Maria!, ruft sie, aber ich glaube ja, dass in dieser Tasche nur ihr Lippenstift