Die Zuschauer. Nathalie Azoulai

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Название Die Zuschauer
Автор произведения Nathalie Azoulai
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966390217



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auf, die die anderen Mütter machen. Plötzlich hat er den Eindruck, ihr blaues Kleid würde leuchten. Und als sie sich endlich setzt, lächelt er den anderen Frauen zu, wie um ihnen zu verstehen zu geben, dass seine Mutter erstens die Schönste unter ihnen ist, und sie es zweitens nicht wagen würde, solche Farben zu tragen, wäre die Kleine genauso krank wie ihre Kinder.

      Im Warteraum lässt sie sie im Kinderwagen liegen, vermeidet nach Möglichkeit, sie auf den Arm zu nehmen, aus Angst, den Stoff zu knittern; vergeblich erklärt sie Maria jedes Mal, ich trage die meiste Zeit ein Baby mit mir herum, wissen Sie, und noch dazu eins, das nicht laufen will, ich brauche einen Stoff, auf dem keine Spuren zurückbleiben. Ava Gardner hat keine Kinder bekommen, und Lana Turner ihre arme Tochter bestimmt nicht oft getragen … Die Kinder der Schauspielerinnen waren für die Fotografen da, aber den Rest der Zeit blieben sie bei ihren Kindermädchen. Maria nickt, gibt jedoch zu, sich von solchen Erzählungen manchmal mitreißen zu lassen und sich ihre Kundin nicht wirklich woanders vorstellen zu können als am Filmset. Zutiefst gerührt erwidert diese das Kompliment und betont, dass sie weit mehr sei als nur eine Kundin.

      Im Behandlungszimmer sind alle in Weiß gekleidet. Selbst als sie sitzt, sticht ihr blaues Kleid noch wie ein Fleck hervor. Um weniger verlegen zu sein, wendet er einen mentalen Trick an, den sie ihm beigebracht hat: sich die Welt in Schwarzweiß vorzustellen. Das entspannt, sagt sie. Er konzentriert sich, versucht, eine harmlose Abstufung von Kontrasten und Nuancen vor sich erscheinen zu lassen, eine sanfte Einheit aus Schwarzweißtönen, und als die Sekretärin endlich den Namen seiner Schwester aufruft, ist das blaue Kleid grau geworden. Seine Mutter gibt die Kleine an den Arzt weiter und setzt sich wieder neben ihn.

      Mit Staunen beobachten sie, wie die großen Hände die winzigen Beinchen abtasten, sich an ihnen zu schaffen machen, sie auseinanderspreizen. Bei jeder Bewegung die Angst, sie könnten reißen wie Schmetterlingsflügel, doch die Finger des Arztes scheinen das weiße Fleisch wunderbar geschmeidig zu machen.

      Daheim posaunt sie zuallererst, dass ihr Arzt, der Arzt deiner Tochter, korrigiert sein Vater barsch, doch sie fährt fort, mein Arzt sieht aus wie Robert Taylor. Sie kniet sich neben ihren Stapel, zieht eine Ausgabe hervor und hält sie hoch: ein sehr schöner Mann, sehr elegant, nicht wahr? Er weiß nicht, ob sie sich für das Fernbleiben seines Vaters rächt oder ob Charme die Sorge verflüchtigen soll, denn am Ende hat der Arzt eine ganze Reihe von Untersuchungen verordnet. Er war lange mit Barbara Stanwyck zusammen, sagt sie weiter, und die war mal wer, nämlich die bestbezahlte Schauspielerin Hollywoods, eine männermordende Frau, nicht zu vergleichen mit dem Bild, das sie heute abgibt. Und schließlich schwört sie, nie wieder mit grellen Farben ins Krankenhaus zu gehen, im Reich des Weißen werde sie Weiß tragen, selbst wenn man sie für einen Hochzeitsgast hält, der die Braut überstrahlen will. Ist er Bob Taylor nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?, fragt sie und hält ihm eine Photoplay vors Gesicht.

      Zu dritt nehmen sie Platz um den Gurkensalat, den sie vorsichtig serviert, um keine Ölspritzer abzubekommen, ihr weißes Kleid nicht zu beflecken. Bis ins kleinste Detail erzählt sie ihnen von der morgendlichen Sprechstunde, ohne zu merken, dass sein Vater die Geduld verliert, immer angespannter wirkt, und als sie die Schüssel Spaghetti mit Soße bringt und die Teller füllt, fragt er: Was genau hat sie? Ach, eine kongenitale Luxation der Hüfte, antwortet sie so nüchtern wie möglich, als hätten diese Wörter schon immer zu ihrem gemeinsamen Vokabular gehört. Sein Vater starrt auf den dampfenden Teller, den sie ihm hingestellt hat, wartet einige Sekunden, wickelt dann ein paar Spaghetti um seine Gabel und führt sie zum Mund. Aber er spuckt sie sofort wieder aus. Er ruft ihr in Erinnerung, dass er zu heißes Essen hasse, dass sie das auch wisse. Ruckartig stülpt er den vollen Teller um, seine Mutter kann nicht mehr ausweichen, sodass die Soße auf das Oberteil ihres weißen Kleids spritzt. Er geht zum Sessel, setzt sich vor den Fernseher.

      Die rote Soße läuft von der Spitze des Spaghettibergs bis zum Tischrand. Er springt vom Stuhl auf, hebt, um etwas zu tun, die Tischdecke an, damit die Soße nicht auf den Teppich läuft. Von so viel hausfraulicher Achtsamkeit ist er selbst überrascht, doch irgendeine freundliche Geste muss der ganzen Gewalt entgegengesetzt werden. Seine Mutter streichelt ihn an der Schulter, während sie die roten Flecken auf ihrem weißen Kleid mit der Ecke einer befeuchteten Serviette abreibt, und bedeutet ihm dann mit einem Blick, den Raum zu verlassen. Zum Glück habe ich auf das Jabot verzichtet, murmelt sie. Er hebt seine Schwester vom Boden in der Nähe des Tisches auf und nimmt sie mit, behält so die Fassung, obwohl er die eigenen Arme und Beine nicht mehr spürt. Und als würde seine Schwester nicht ausreichen, läuft er noch einmal zurück, einen Arm mit der Kleinen beladen, den anderen nun mit dem dicken Wörterbuch, das er jüngst zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen hat. Noch ein wenig außer Atem erklärt er, dass kongenital ganz einfach angeboren heiße, dass es nicht unbedingt schlimm sei. Das denke sie auch, antwortet seine Mutter, es sei denn … Es sei denn was?, fragt sein Vater, der an den Tisch zurückkehrt. Am Ende sprach er von einem emotionalen Schock, aber mein Kleid war so zerknittert, dass ich nicht weiter nachbohren wollte. Nächsten Monat werde ich ihn fragen, was er darunter versteht, und ein Kleid anziehen, das nicht knittert, ich sage es Maria jedes Mal, aber sie hört ja nicht, vor allem nicht in letzter Zeit. Wer weiß, ob ich jemals das perfekte Kleid für solche Besuche kriege, immer stimmt irgendwas nicht. Du kannst nächsten Monat mit mir kommen, wenn du willst, sogar mit dem Wörterbuch, sagt sie zu ihm. Gut, lasst uns essen, sagt der Vater und nimmt seinen Platz wieder ein, wir verpassen sonst den Anfang.

      Sie hat alles aufgesammelt, alles sauber gemacht, die kalt gewordenen Spaghetti in die große Schüssel zurückgegeben. Sie serviert mit den gleichen behutsamen Gesten, als ob nichts geschehen wäre, obwohl er ihre Finger leicht zittern sieht. Die Kleine ist wieder auf dem Teppich, sie essen schweigend, sein Blick kreuzt den Blick seines Vaters, folgt ihm, verfolgt ihn bis zu den braunen Spuren auf dem weißen Kleid, und er denkt, dass die Soße sich mit einem Jabot noch viel stärker verteilt hätte, dass es viel schlimmer gewesen wäre, mit einem farbigen Stoff dagegen weniger. Keiner kommt auf den Ausdruck zurück, der um den Tisch schwebt, zwischen den Tellern, sich den Weg in seine Gedanken bahnt, sie gerinnen lässt, bis die sechs Silben verklumpen und rein gar nichts mehr bedeuten, Emotionalaschock, weder Szene noch Bild noch sonst irgendetwas erahnen lassen.

      Am Fuß des Fernsehers plappert sie. Verstreut um sie herum liegen Würfel, Puppen, Spielzeuggeschirr. Sie schaut zum Fernseher auf, ihr Blick gleitet über die Silhouette des Generals, dem niemand zuhört, da er noch immer von England spricht. Sie greift nach einem roten Plastikbecher, führt ihn zum Mund, wirft den Kopf nach hinten. Er rutscht vom Stuhl hinunter, um sich neben sie zu setzen, nimmt sich einen eigenen Becher, den er sanft gegen ihren stupst. Sie stoßen an. Er sagt: Zum Wohl! Sie bricht in Lachen aus. Und noch einmal: Zum Wohl! Sie lacht und gluckst noch lauter. Ihr Glucksen reinigt den Raum vom Gezeter, von den Flecken. Ihre Mutter bückt sich – komm, Zeit zum Mittagsschlaf –, hebt sie auf wie ein Wäschebündel und verschwindet mit ihr im hinteren Teil der Wohnung.

      Er bleibt auf dem Boden sitzen, hantiert mit dem Spielzeuggeschirr in der Hoffnung, dass seine Schwester protestiert, nicht schlafen gehen will, doch vom Flur aus dringt kein einziger Schluchzer zu ihm. Sein Vater rügt ihn schließlich, ein Junge in seinem Alter mit solchen Babyspielen, zumal für Mädchen, also wirklich!, und befiehlt ihm zusammenzuräumen. Langsam sammelt er die Einzelteile ein, will alles, nur nicht aufstehen und wieder seine volle Körpergröße annehmen. Erst als sein Vater sich in den Sessel setzt, richtet er sich auf, allerdings weit hinter ihm. Hast du denn heute keine Schule?, fragt er ihn, während er unverwandt auf den Fernseher starrt. Er lügt schamlos, ohne weitere Erklärung, da verkündet der General: »Nun zum Orient.« Sein Vater richtet sich im Sessel auf, und obwohl er dachte, sie würde nicht zurückkommen, tritt seine Mutter ins Zimmer, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, und wiederholt prompt, der Orient, der Orient, mit einer Spottlust, die ihr gar nicht ähnlichsieht. Erinnerst du dich an das Ende von Morocco?, fragt sie und stellt den Kaffee auf den Couchtisch neben seinem Vater ab. Marlene Dietrich zögert lange, Gary Cooper in die Wüste zu folgen. Sie trägt ein Tulpenkleid und Stöckelschuhe. Er weiß nicht, wem all diese Ausführungen gelten, wo der General doch zu sprechen beginnt. Es war das Tor zum Orient, sagt sie. Sein Vater erwidert bloß, dass sie den Orient mit der Wüste verwechsle, und bittet sie zu schweigen. Nach der Szene am Mittagstisch will er keinen schärferen Ton mehr anschlagen. Sie schweigt, bleibt jedoch