Die Zuschauer. Nathalie Azoulai

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Название Die Zuschauer
Автор произведения Nathalie Azoulai
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966390217



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zu fragen: Und? Was macht sie? Wer? Marlene Dietrich. Ah, na klar geht sie! Natürlich! Zunächst mit ihren beigen Stöckelschuhen, bestimmt aus schönstem italienischem Leder gefertigt. Sternberg nahm es mit seinen Kostümen sehr genau. Er hatte in einer Stickereiwerkstatt angefangen und widmete sich dem Kino, weil er sehr feine Finger hatte, die mit Filmstreifen genauso gut umgehen konnten wie mit Spitze. Dann zieht sie ihre Schuhe aus und folgt der Karawane. Sie lässt alles zurück, um in der Wüste Marketenderin zu werden. Das Bild ist immer noch hier drin, sagt sie und zeigt auf ihre beiden Schläfen: die herrlichen, in den Sand geworfenen Pumps, kurz davor, von den Dünen geschluckt zu werden, was für ein Jammer … Sie hält inne. Meinst du, sie hat die richtige Entscheidung getroffen oder die falsche?, fragt er. Sie legt den Zeigefinger auf ihre Lippen, deutet mit einer Kinnbewegung auf den Bildschirm, aber er ahnt, dass sie zögert, nicht weiß, welche Antwort sie ihm geben soll. Sie schweigt einige Sekunden, dann flüstert sie, in der letzten Filmszene packt die Dietrich energisch eine Ziege bei der Leine, und ballt zur Nachahmung die Faust. So, sagt sie lauter und zieht an einem unsichtbaren Strick.

      Seid ihr endlich still!, knurrt sein Vater, ohne sich umzudrehen.

      Sie müsse nach unten zu Maria, sagt sie. Nein, sagt er, bleib noch kurz, wagt aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie nickt und setzt sich aufs Sofa. Er nimmt links neben ihr Platz.

      Er sollte sich freuen über diesen Moment, dem er seit Tagen entgegenfiebert, für den er alle belogen hat außer Pepito: Ich komme heute Nachmittag nicht, ich gucke mir den General an, sag einfach, ich sei krank, oder dass es wegen meiner Schwester ist, such dir was aus. Es ist seine erste Pressekonferenz, seit sie einen Fernseher haben. Ein Anflug von Neid flackert im Schokoladenblick seines Freundes auf, der zaghaft hinzufügt, ich könnte ja auch die Schule schwänzen und die Konferenz mit dir zusammen schauen. Schon sieht er Pepito neben sich sitzen, hinter seinem Vater, verschüchtert und zahm, und also erwidert er, gesetzt den Fall, du guckst mit, wer leiht mir dann seine Hefte, um den Stoff nachzuholen? Pepito wird wie immer unsicher, wenn er sich ungewohnt ausdrückt, was ihn zufrieden stimmt, weil diese Verunsicherung seinen Vorsprung bezeugt, das Ausmaß seines Wortschatzes.

      Der General spricht ohne Notizen, ohne Teleprompter.

      Er weiß, dass er seine Texte auswendig lernt, sich stundenlang in sein Arbeitszimmer einschließt und sie unermüdlich einübt. Sein Gedächtnis ist so beeindruckend wie seine Körpergröße, von klein auf trainiert unter Anleitung seines Vaters, einem Geschichts- und Lateinlehrer. Mal stellt er sich dieses Gedächtnis länglich vor, aufgehängt wie ein Gestirn im Inneren seines großen Körpers, mal als zirkulierende Flüssigkeit. Vielleicht hat er sogar einen Repetitor, jemanden vom Theater, der seine Sprechweise korrigieren kann, seinen Rhythmus, seinen Umgang mit stummen Konsonanten, damit er sich genauso tadellos ausdrückt wie ein französischer König. Ein Staatschef muss sein Volk überragen, durch die Bauten, die er errichten, die Medaillen, die er prägen, und die Reformen, die er verabschieden lässt, doch genauso muss er sich durch gewandte Reden hervortun, die er vor laufenden Kameras hält, denkt er eng an seine Mutter geschmiegt, um kurz darauf zusammenzuzucken.

      Was ist los mit dir?, fragt sie.

      Sie haben es nicht gehört. Sie können es unmöglich nicht gehört haben, denkt er Schlag auf Schlag.

      Dem General ist ein Velours unterlaufen, sagt er mit kaum hörbarer Stimme. Sein Vater dreht sich abrupt um. Sein Kopf, seine Arme, sein ganzer Körper bringt die Luft zum Zischen. Mit der Hand ist er gegen die kleine Kaffeetasse gestoßen, hat sie umgeworfen. Seine Mutter will sie schnell aufheben, doch er macht eine Geste, bedeutet ihr zu bleiben, wo sie ist. Aber der Teppich …, protestiert sie. Die braune, körnige Substanz läuft auf das grüne Muster, wird in Sekundenschnelle aufgesogen. Sie setzt sich wieder, ohne den Fleck aus den Augen zu lassen. Was hast du gesagt?, fragt sie. Dem General ist ein Velours unterlaufen, er hat einen Konsonanten gesetzt, wo keiner hindarf. Spricht man ein S, wo keins hingehört, heißt das Velours – wie der samtige Stoff –, erklärt er. Setzt man fälschlicherweise ein T, wie z. B. »il va-t-à la plage«, statt einfach »il va à la plage«, nennt man das hingegen Cuir – Leder. Seine Mutter schielt mit zusammengekniffenen Augen zum braunen Fleck auf dem grünen Teppich, froh, nichts unternommen zu haben, denn die zwei Farbtöne vermischen sich langsam. Sie wiederholt mechanisch die Wörter Velours und Cuir, als kämen sie ihr zum ersten Mal über die Lippen. Warum Schneiderbegriffe? Man sagt Velours, weil es weicher ist als Leder, und deshalb heißt der Konsonantenfehler, der für unsere Ohren am härtesten klingt, auch Cuir. Sie blickt ihn verständnislos an. Er setzt neu an: Cuir bedeutet, dass man ein T setzt, wo keins hingehört. Man sagt Cuir, weil man die Sprache entstellt, ihr geradezu die Haut herunterreißt, aber das hier war weicher, also ein Velours: »ce qu’ils avaient-s-été de tout temps« statt ce qu’ils avaient été de tout temps – was sie von jeher waren.

      Sein Vater dreht sich nicht mehr um, obwohl sie ununterbrochen weitertuscheln. Eigentlich müsste er sich nochmals umwenden und brüllen, dass sie still sein sollen, doch er rührt sich nicht. Er müsste zu ihnen sagen, aber das ist ja noch schlimmer, c’est pire qu’un cuir, als würde er den Ausdruck schon kennen, pirkincuir, in einem Zug gesprochen. Doch nichts. Plötzlich ängstigt ihn die Reglosigkeit, das Schweigen seines Vaters, fast fürchtet er, ihn tot in seinem Sessel vorzufinden. Ohne mich hätten sie es nicht mitbekommen, denkt er noch einmal, und er will gar nicht erst hinzufügen, dass es klingt, als richtete der General sich direkt an sie drei, in der zweiten Person Plural, ce que vous avez été de tout temps, was ihr von jeher wart, als spräche er vom Apparat, vom Élysée-Palast aus direkt zu ihnen, vor den Kameras der ganzen Welt. Manche fürchteten sogar, dass ihr, die ihr bis dahin in alle Winde zerstreut gelebt habt, doch geblieben seid, was ihr von jeher wart …

      Seit Tagen warten sie auf diese Konferenz, seit Tagen probt de Gaulle sie mit einem Theaterschauspieler, und nun lispelt er fast. Er lehnt sich leicht an seine Mutter an, die noch immer auf den Teppich starrt und am liebsten aufstehen würde, um die umgeworfene Tasse aufzuheben und den Kaffeefleck abzureiben, ihn vollständig verschwinden zu lassen.

      Haben es sonst noch irgendwelche Zuschauer gehört? Diejenigen Freunde seines Vaters, die auch einen Fernseher haben? Wäre es ihm im Radio genauso aufgefallen? Und was, wenn sie sich mit diesem Fernseher tatsächlich den Teufel ins Haus geholt haben? Die Kamera bleibt auf den General gerichtet, der keinerlei Verwirrung erkennen lässt, argumentiert und skizziert, während sein Vater sich jetzt im Sessel windet. Sieh ihn dir an, wie ungerührt er ist, zuckt nicht mal mit der Wimper, hockt da wie im Gottesdienst, sagt er und zeigt auf einen der Männer, die rechts neben dem General sitzen. Wer?, fragt seine Mutter. Michel Debré, antwortet er. Sie wundert sich nicht, dass er anstelle seines Vaters antwortet, dass er Bescheid weiß. Und Raymond Aron, ist der auch da?, fragt sie lauter. Aaron, verbessert sein Vater, indem er das a verdoppelt, es in die Länge zieht. Nein, aber er schaut bestimmt zu. Ja, natürlich, Aaron, dein größtes Schreckgespenst, sagt sie leicht stolz, als begrüße sie seine Streitlust. Nicht mehr, stellt er richtig. Ach ja? Warum nicht mehr? Er ist also nicht mehr dein Schreckgespenst?, fragt sie fast schon enttäuscht.

      Vergiss den Juni nicht, bekommt sie lediglich zur Antwort. In ihm aber kommen Bilder auf, in dem zwei Größenordnungen aufeinanderprallen: Das Schreckgespenst erscheint in Gestalt einer großen schwarzen Bestie, die ein wildes, im Schatten der Wälder jagendes Rudel anführt, aber auch in Form sehr kleiner schwarzer Viecher, flirrender Insektenschwärme auf wenigen Quadratmillimetern. Schwarze Biester, mal draußen in der Welt, mal auf dem Fernsehbildschirm, oder sogar im Apparat selbst.

      Sein Vater hat Raymond Arons Bücher nie gelesen, ja nicht einmal dessen Zeitungsartikel, abgesehen von jenem einen, auf den ihn am 4. Juni ein Freund hinweist. An diesem Tag kauft er sofort die Zeitung und schneidet den Artikel aus. Zu Hause geht er auf und ab und liest ihn mehrmals laut vor, sogar im dunklen Flur: »Wenn die Großmächte, dem nüchternen Kalkül ihrer Interessen gemäß, den kleinen Staat, der nicht meiner ist, der Zerstörung anheimgeben, wird dieses Verbrechen, das rein zahlenmäßig kein allzu großes ist, mir die Kraft zum Leben rauben.« Seine Mutter ist mit der Kleinen