Der Tod - live!. Philipp Propst

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Название Der Tod - live!
Автор произведения Philipp Propst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858827401



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erinnerte sich an die Ausflüge, schmunzelte und schweifte in ihren Gedanken zu ihrem Mann. Aber sie war auch ein bisschen enttäuscht, dass nicht noch mehr eindeutig zweideutige Fotos von ihr gespeichert waren.

      Er hätte mich aber ruhig fragen dürfen, sagte sie sich, ich habe nichts davon mitbekommen. Schliesslich war sie in diesen Situationen selbst in sexuell angeregter Stimmung – und sie war eine Frau, die Sex liebte –, aber gut: So lange sie seine Traumfrau war, war ja alles in bester Ordnung.

      Sie zappte weiter durch Konstantins Bildergalerie. Landschaftsfotos, Porträts von ihr, von Bekannten, Landschaftsfotos, Autobilder und … «Was ist denn das?», murmelte Susa plötzlich. Sie öffnete ein Bild – und erstarrte. Ein blutiges Gesicht.

      Nächstes Bild. Schwarze Gestalten. Erstarrt in Stellungen, die ihr unnatürlich erschienen. Irgendwie zusammengezogen. Wieder ein blutiges Gesicht. Teile eines Gesichts. Kein Gesicht. Nur noch Umrisse eines Kopfes. Aufgerissene Augen.

      Susa holte ihr eigenes Handy und kopierte die gesamte Galerie via Bluetooth. Danach stellte sie sich erneut unter die Dusche. Sie drehte den Wassermischer von warm auf kalt. Dreissig Sekunden hielt sie es aus. Danach trocknete sie sich ab, eilte ins Schlafzimmer und zog sich an. Sie trank noch einen Kaffee und betrachtete nun die Bilder auf ihrem eigenen Handy.

      Sie selbst. Glücklich. Sie beim Sex. Heiss. Doch leider waren auch die anderen Bilder da. Dunkel, düster, meistens unscharf. Tote. Sie klickte sich durch. Und entdeckte noch Grauenhafteres als das, was sie schon gesehen hatte. Junge Männer, offensichtlich schreiend, mit blutenden Wunden, die Geschlechtsteile fehlten. Susa musste weiter klicken, zu schrecklich waren die Fotos. Doch es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Junge Frauen mit entstellten Gesichtern und Messern zwischen den Beinen. Nein, nicht die ganzen Messer waren zu sehen. Nur die Griffe. Denn die Klingen steckten tief in den Körpern.

      Susa erbrach sich auf das Parkett.

       25. Januar

      REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

      Beim Wort «Fasnacht» begann Chefredaktor Jonas Haberer mit den Füssen zu scharren und mit den Absätzen seiner Boots auf den Boden zu schlagen: Klack – klack – klack.

      «Fasnacht ist in der Schweiz das beliebteste Volksfest überhaupt», führte der junge FotografJoël Thommen aus. «Da könnten wir eine tolle Reportage machen. Zum Beispiel darüber, wie sich die Fasnächtler in Luzern, Bern und Basel darauf vorbereiten, die Kostüme schneidern und die Masken kreieren. In Basel werden ja noch grosse Laternen gemalt, das gäbe tolle Fotos.» Jonas Haberer gähnte. Seine Mimik zeigte aber deutlich, dass er gar nicht gähnen musste, sondern nur so tat.

      «Und in Luzern könnten wir eine Guggenmusik bei einer Probe besuchen. In Bern den Typen besuchen, der im Bärenkostüm steckt. Und in der Ostschweiz gibt es sicher auch noch jene lustigen …» Haberer steckte sich den Zeigefinger in den Mund und machte Würgegeräusche. Joël Thommen wagte nichts mehr zu sagen. Auch die anderen Redaktionsmitglieder waren still. „Habe ich etwas verpasst?», fragte Haberer nun provokativ.

      «Hey, Jonas, du übertreibst», meldete sich nun Nachrichtenchef Peter Renner, die Zecke, zu Wort. «Wir wissen, dass du nicht auf Fasnacht stehst. Trotzdem ist der Vorschlag von Joël nicht so …»

      «Papperlapapp, Pescheli», fauchte Haberer. «Fasnacht ist Scheisse. Kommt mir nicht ins Blatt. Von mir aus könnt ihr diesen Müll auf unserer Online-Seite veröffentlichen.» Er verdrehte theatralisch die Augen, räusperte sich laut und ziemlich unappetitlich und fragte dann: «Hat irgendjemand eventuell noch eine andere Idee?» Die fünfundzwanzig Journalisten blieben alle mucksmäuschenstill.

      «Was seid ihr bloss für eine lahme Truppe!», wetterte Haberer. «Wir brauchen News, Sex und Skandale. News, Sex und Skandale.» Und noch lauter: «News, Sex und Skandale!»

      Damit war die Sache und gleich die ganze Themensitzung beendet. Haberer stand auf und verliess den Raum. Klack – klack – klack. Seine Schritte hallten noch eine Weile nach. Dann war eine zuknallende Türe zu hören.

      «Kein Problem, Leute», sagte Peter Renner. «Ihr kennt den Alten. Ist eine Boulevard-Ratte wie vor hundert Jahren.» Er drehte seinen Kopf beziehungsweise seinen ganzen, massigen Körper leicht nach links und schaute Joël an: «Nimm’s easy! Du als Basler hast es nicht leicht mit deiner Fasnacht bei uns Bernern. Einfach für ein nächstes Mal: Besprich deine Ideen zuerst mit mir, bevor du hier den Haberer auf die Palme bringst!»

       22. Februar

      CLARAPLATZ, BASEL

      Thomas Neuenschwander stand mit seiner Familie um 14.36 Uhr bei der Tramhaltestelle Claraplatz in der ersten Reihe. Der Cor- tège, der Basler Fasnachtsumzug, war in vollem Gang. Pfeifende und trommelnde Formationen, sogenannte Cliquen, zogen in prächtigen, teuflischen oder lustigen Kostümen an ihnen vorbei. Dazwischen heizten Guggenmusiken ordentlich ein. Die Kinder hielten sich manchmal die Ohren zu und wichen einen Schritt zurück, vor allem wenn die Paukisten vorbeiliefen. Diese holten mit den Armen für jeden Schlag kräftig aus. Am meisten Freude hatten die drei Kinder an den «Waggis»-Wagen, weil die Kostümierten darauf Bonbons, Orangen oder kleine Spielsachen herunterwarfen. Manchmal schütteten sie aber auch Konfetti über die Leute, Räppli, wie man in Basel sagt. Und die Frauen wurden mit Blumen, vor allem mit Mimosen, beglückt. Ein richtiges Fest bei strahlendem Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. Die Kinder durften ihre Wollmützen abnehmen.

      Plötzlich entdeckte Thomas mitten in diesem Treiben eine kleine, ältere Frau mit graumelierten Haaren. Sie hatte einen Blindenstock dabei, wirkte aber nicht so, als sei sie wirklich blind. In ihrem rechten Arm hielt sie einen Teddybären mit grossen, braunen Augen. In ihrem Rucksack sass ein weiteres Stofftier, ein weisser Hase. Seine langen Ohren baumelten bei jedem Schritt hin und her. Thomas kannte die Frau. Sie sass oft in seinem Bus der Basler Verkehrsbetriebe. Sie tauchte auf allen möglichen Linien auf. Auf dem 36-er und dem 34-er war sie aber am häufigsten. Sie sass immer zuvorderst. Oft war sie stumm. Manchmal murmelte sie etwas vor sich hin. Einmal hatte Thomas sogar verstanden, was sie sagte: «Ich bin kein schlechter Mensch. Ich mach niemandem weh.» Wahrscheinlich wohnte sie in einem Heim. Denn es war offensichtlich, dass sie geistig behindert war.

      «Schau, da ist diese Frau, von der ich dir schon mehrmals erzählt habe», sagte Thomas zu seiner Frau. In diesem Moment wollte ein jüngerer Mann der Frau helfen; denn sie war mitten in den Umzug geraten. Doch die Frau wehrte sich und trottete munter weiter. Immer mit dem Blindenstock voraus.

      Thomas genoss den freien Nachmittag mit seiner Familie an der Fasnacht. Er war zwar Basler, aber nie ein aktiver Fasnächtler gewesen. Die Kinder zeigten diesbezüglich mehr Interesse. Vielleicht werden sie bald einmal in die Junge Garde einer der grossen Cliquen eintreten und pfeifen oder trommeln lernen.

      Den Morgestraich um vier Uhr morgens, den Auftakt zur Basler Fasnacht, hatte Thomas im Bus erlebt. Sein Dienst hatte um 02.03 Uhr begonnen. Obwohl er am Vormittag ein bisschen geschlafen hatte, spürte er Müdigkeit aufkommen. Aber er wollte auf jeden Fall diesen Tag mit seiner Familie geniessen. Er liebte die Fasnacht. Er sammelte auch alle Zeedel, die Fasnachtsgedichte, die die Cliquen den Zuschauern in die Hände drückten, und las sie zu Hause.

      Er schaute nochmals zur behinderten Frau: Sie befand sich ein gutes Stück weiter vorne in der Greifengasse und die Lampiohren des Hasen in ihrem Rucksack schaukelten weiterhin lustig hin und her. Thomas schmunzelte. Irgendwie mochte er diese Frau, auch wenn sie immer grimmig dreinblickte. Was war wohl los mit ihr? Warum war sie immer mit Stofftieren unterwegs? War es immer ein Bär und ein Hase? Sass normalerweise nicht ein kleiner Elefant in ihrem Rucksack? Thomas rührte dieser Anblick, diese Frau. Vielleicht war sie ja glücklich. Glücklich, ihre Stofftiere spazieren zu führen.

      Ein Knall riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Schreiende Menschen. Staub, Fetzen und allerlei Dinge flogen durch die Luft. Thomas packte seine Kinder und seine Frau und warf sich mit ihnen auf den Boden.

      RESTAURANT ADLER, OCHSENGASSE, BASEL

      Die Kleinbasler Beiz wurde durchgeschüttelt. Die Menschen, alles Kostümierte, die sich in den «Adler» gedrängt hatten, erstarrten. Die Bier- und Weingläser zitterten. Nur die