Almas Rom. Patrizia Parolini

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Название Almas Rom
Автор произведения Patrizia Parolini
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302410



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neben ihm ein altes schwarzes Herrenfahrrad. Er schob seinen Strohhut zurecht und winkte Alma schon von Weitem zu.

      Alma sah nur noch seine leuchtenden Augen, und auf einmal sprudelte es aus ihr heraus, dass sie gar nicht hier sein dürfte, dass sie ja bald abreisen würde, dass es gar keinen Sinn machte. Dann brach sie in Tränen aus, und sie kam sich dämlich vor.

      Antonio strich ihr über die Wange, nahm ihre Hand. «Das weiss ich ja schon!»

      «Ah ja?» Alma strich sich die Tränen aus den Augen und versuchte ein Lächeln.

      «Das haben Sie erzählt.»

      Alma runzelte ungläubig die Stirn.

      «Deshalb habe ich Sie gebeten zu kommen. Denn die Vorlesungen haben wieder begonnen, und ich wurde umgeteilt für den Zeitungsverkauf.»

      Alma stand da wie gelähmt und verzweifelt.

      «Ich werde nicht mehr die Via Merulana bedienen!» Antonio schaute ernst, zog sie näher zu sich und legte den Arm um ihre Schultern.

      Sie erschrak, liess dann aber den Kopf an seine Schulter sinken. Da war es wieder, dieses Gefühl der Leichtigkeit. Als würde sie auf Wolken schweben.

      «Was ist das?» Etwas Hartes in seiner Jacke drückte gegen ihre Brust. Sie löste sich von ihm.

      «Ich hab etwas für Sie!» Aus der Innentasche seines erdbraunen Jacketts zog er ein meerblaues, in glänzendes Leinen eingefasstes Buch. «Schauen Sie, eine Frau, die schreibt!» Er hielt es ihr hin.

      Grazia Deledda. Alma liebte die Fortsetzungsromane dieser Schriftstellerin, die im Giornale d’Italia abgedruckt wurden. Sie fühlte, wie sie errötete.

      «Ehm, zum Abschied.» Antonio räusperte sich.

      Alma nahm es mit gesenktem Blick entgegen, fühlte den Stoff des Einbandes, las den Titel: «Nostalgie». Wieder schossen Tränen in ihre Augen, sie versuchte angestrengt, sie zurückzuhalten.

      «Sie ist eine berühmte sardische Dichterin, lebt aber in Rom!»

      Alma nickte, drückte das Buch an ihre Brust und brachte vor Rührung kein Wort hervor.

      Antonio nahm wieder ihre Hand, drückte einen Kuss auf ihren Handrücken und liess sie lange nicht los. «Sehen wir uns vor Ihrer Abreise?» Er schaute in ihre geröteten Augen und strich nochmals über ihre Wange.

      «Ja!»

      «Ich lasse Sie wissen, wann ich kommen kann!»

      Alma nickte wieder, dann hielt sie das Buch an die Nase, roch den herben Geruch des Leinens, vermischt mit dem Duft von Papier und Druckerschwärze. Sie blickte Antonio an. «Ja, bitte! Sie wissen, wo ich bin.»

      Dann schlug sie das Buch auf, blätterte zum Beginn des ersten Teils und las laut: «Sie näherten sich Rom. Der Novembermond, ein grosser perlmuttfarbener Mond, klar und melancholisch, beleuchtete die Campagna: Der wütende Wind traf heftig auf die Wucht des fahrenden Schnellzugs.»

      Alma beeilte sich, Angela wartete bereits.

      «Willst du fahren?», grinste sie.

      «Nein! Auf keinen Fall! Mir zittern die Beine.» Alma strahlte und seufzte tief.

      Angela begleitete sie an forno, Bar und sor Augusto vorbei zum Haustor. Alma dankte Angela und schaute zu, wie sie auf das Fahrrad stieg und übermütig in Slalomlinien die Strasse hinauffuhr. Obwohl Alma noch im Laden hätte helfen müssen, eilte sie die Treppen hinauf und zog die Zimmertür hinter sich zu. Ein bisschen Ungehorsam muss drin liegen, dachte sie mit schlechtem Gewissen. Sie legte sich aufs Bett und wartete, dass ihr Herz nicht mehr so heftig klopfte.

      XXI

      Kein Umzug in die neuen hässlichen Mietshäuser in San Saba! Gut! Cristoforo seufzte erleichtert. Kein Neubeginn in Rom zwischen Schlachthaus und Piramide! Endlich war alles klar. Entschieden. Er sass am runden Nussbaumtisch im salottino, strich sich mit der Hand übers Gesicht und schaute aus dem Fenster des Eckzimmers. Die Pendeluhr tickte. Daneben hing ein Kruzifix an der lindgrün tapezierten Wand.

      Edgardo hatte geschrieben. In seinem Brief aus dem Puschlav teilte sein Bruder ihm mit, dass er für sie ein leer stehendes Haus am Dorfeingang gefunden habe. Sie sollten ihm den Tag ihrer Ankunft mitteilen. Er hoffe, es gehe ihm besser. Seine Familie freue sich, sie bald wieder in der Nähe zu haben. Und er wollte wissen, ob der neue Dampfbackofen gut funktioniere, ob sich das Brot damit tatsächlich noch luftiger und doch knusprig backen lasse. Er schloss mit den Glückwünschen für einen reibungslosen Aufbruch und eine gute Reise.

      «Was schreibt er?», wollte Anna wissen. Sie räumte gerade den Sekretär auf, wischte Fingerabdrücke vom Globus und Staub von den Büchern auf der Ablage darüber. Eine Bibel, Heiligengeschichten, Gebetsbücher und Klassiker von Manzoni und Verga, Kinderbücher und Comic-Hefte.

      Cristoforo schob ihr den auseinandergefalteten Brief zwischen einem Stapel Zeitungen und dem Nähzeug hindurch zu. Anna warf einen Blick aus dem Fenster.

      «Die Seiltänzer sind wieder da», sagte sie beiläufig, setzte sich, nahm den Brief in die Hand und suchte ihre Brille.

      Cristoforo stand schwerfällig auf, legte sich auf das Sofa und schaute aus dem Fenster hinaus zum monte. Der Wind spielte mit den Blättern der Silberpappeln. So jung waren er und Edgardo, sein älterer Bruder, gewesen, als sie im Spätsommer 1878 angekommen waren. Rom war gerade Hauptstadt von Italien geworden. Eine Stadt im Aufbruch, im Baufieber. Und sie, übermütig und blauäugig, hatten sich vorgestellt, gleich das grosse Glück zu finden. Über all ihre Zweifel und Ängste hatten sie nicht geredet, auch nicht darüber, dass nicht nur pure Abenteuerlust sie aus dem heimatlichen Tal getrieben hatte. Sie beide, die Jüngsten ihrer grossen Familie, hatten eigentlich keine andere Wahl gehabt. War da nicht doch ein leichtes Kribbeln in der Magengegend gewesen, als sie durch die Po-Ebene gerattert waren? Als sie am Bahnhof ausgestiegen waren? Der war ihnen gigantisch vorgekommen. Die Weitläufigkeit der Piazza dei Cinquecento, die damals noch Piazza di Termini geheissen hatte, die riesigen repräsentativen Palazzi, das gleissende Licht auf dem marmornen Stein. Und überall demolierte Mauerstücke, zerfallene Säulen. Was für einen gewaltigen Eindruck ihm das alles gemacht hatte, und wie klein er sich auf einmal vorgekommen war!

      Und danach all die Entbehrungen! Der Hungerlohn für die Zigarettenstummel, die sie vor dem Geschäft ihres Puschlaver Bekannten eingesammelt hatten, um den Platz sauber zu halten. Das Zimmer im Dachgeschoss eines heruntergekommenen Häuserblocks hinter dem Trajansforum, eng und stickig. Lange hatte er schlecht geschlafen, auch wegen der ungewohnten Geräusche, die bis zu ihnen heraufgedrungen waren. Das laute Gegröle bis spät nachts, das rechthaberische der streitsüchtigen Römer, das Hallen der Pferdehufe, das Gemecker ganzer Ziegenherden morgens in aller Frühe. Im Wirrwarr der dunklen Gassen ohne richtige Kanalisation hatte es fürchterlich gestunken, und überall waren aufdringliche Bettler und Wahrsager herumgelungert.

      Die Stadt mit ihren rund zweihunderttausend Einwohnern war ihm damals riesig vorgekommen. Seither hatte sich die Bevölkerungszahl mehr als verdoppelt. Und in diesem Rom, das sich von einer unhygienischen, rückständigen Stadt in eine moderne europäische Grossstadt verwandelt hatte, hatte er sich hochgearbeitet und es zu etwas gebracht. Stolz erfüllte ihn. Und Wehmut, wenn er daran dachte, nun ins Puschlav zurückzukehren, um Ruhe zu finden. Cristoforo setzte sich wieder auf, betrachete den Jasmin auf dem monte. Er war beinahe verblüht. Ja, Heimat könnte Heilung bringen, durchfuhr es ihn. Annas verzagtes vabbè – na dann – hörte er nur von weit weg.

      XXII

      Die Zeitungszeilen verschwammen ineinander. Cristoforo versuchte, sich zu konzentrieren, doch es erschien ihm immer belangloser, welche Machtspiele Premierminister Giolitti mit seinen Gegenspielern Sonnino und Salandra austrug oder was Italiens Armee in der Türkei und Libyen wollte. Ihn packte Schwindel, sein Herz klopfte schnell. Heftig blätterte er die Zeitungsseiten um und verweilte bei den Auftritten in den café-chantant. Doch es nützte nichts, alles drehte sich, die Worte tanzten. Er stützte sich auf dem Nussbaumtisch ab, tastete sich zum Sofa und setzte sich. Hinlegen