Название | Almas Rom |
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Автор произведения | Patrizia Parolini |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302410 |
Als die Glocken des campanile halb acht Uhr schlugen, verabschiedete sich Alma eilig von ihren Freundinnen. Sie hätte schon längst zu Hause sein müssen, um Nazzarena beim Zubereiten des Abendessens zu helfen. Wenn Vater ihre Verspätung bemerkte, würde es ein Donnerwetter absetzen. Alma rannte, so schnell sie konnte.
XVII
«Al sgarbis, al sgarbis!», schrie Tiziano ihr von der Kasse her zu. Doch bevor sie begriff, hatte der Mann das Brot von der Theke genommen, eine Flasche Wein gepackt und war weg gewesen. Tiziano schimpfte mit ihr, weil sie einem notorischen Dieb auf den Leim gegangen war. Sie hätte es wissen müssen, doch sie war in Gedanken versunken gewesen.
«Ich hab dich doch gewarnt!»
«Was hast du mir gesagt?» Erschrocken blickte Alma Tiziano an. Sie verstand den Jargon der Bäckersleute nicht, dieses furchtbare Kauderwelsch aus alten Puschlaver Dialektbrocken und römischer Mundart!
«Diamine!»
Clemente kam ihr zu Hilfe. «Komm, ist schon gut. Pass das nächste Mal besser auf.»
Alma nickte kleinlaut.
«Al sgarbis heisst ‹er klaut›. Und frost heisst ‹Brot› und schirel ‹Wein›!», erklärte er ihr aufmunternd.
«Ohimè!», entfuhr es ihr erleichtert. «Ich muss jetzt.» Sie packte das Brotbündel und verliess den Laden, um vor dem Frühstück noch die Zeitungen zu besorgen.
Antonio bemerkte Almas Aufregung. Sie erzählte ihm von ihrem Missgeschick, und sie lachten. Und er erzählte ihr von der Universität, an der er Italienisch und Geschichte studierte, und davon, dass er sich mit dem Zeitungsverkauf und einigen Privatlektionen Leben und Studium finanziere. Ihm gefiel ihr Quartier, weil viele Strassen nach berühmten italienischen Künstlern benannt waren. «Ihr habt eine Piazza Dante, die Via Petrarca und den Viale Manzoni, die Via Leonardo da Vinci, Buonarroti, Galilei und Machiavelli! Kennst du sie?», fragte er begeistert.
«Ja, in der Schule habe ich I promessi sposi von Manzoni gelesen, gefällt dir die Geschichte?», antwortete Alma interessiert.
Jeden Morgen hoffte sie sehnlichst, dass Antonio die Via Merulana mit den Zeitungen bediente. Jeden Tag hatte sie neue Fragen bereit, und es gelang ihr von Mal zu Mal besser, ihre grosse Schüchternheit zu überwinden.
«Erzähl mir von Foscolo, Leopardi und Ferruccio! Mich nimmt wunder, wer Tasso, Alfieri und Botta waren. Kannst du in deinen Büchern nachlesen, was sie geschrieben haben?»
Und beim nächsten Mal berichtete ihr Antonio, was er herausgefunden hatte. Dazwischen kommentierte er die Schlagzeilen, ereiferte sich über Giolitti, den zu geduldigen Ministerpräsidenten, die Streiks der Fabrikarbeiter im Norden des Landes und die Rückständigkeit des Mezzogiorno. Er beschrieb ihr die Entwicklung in den italienischen Kolonien Ostafrikas und den Konflikt mit dem Osmanischen Reich, der Anfang Oktober mit dem Beschuss der Stadt Tripolis begonnen hatte.
Während Antonio sprach, gab er mit flinken Fingern Zeitung um Zeitung heraus und steckte die Fünfer ein.
Alma stand daneben und hörte fasziniert zu. Nach einer Weile eilte sie dann die Via Merulana hinauf mit dem Brotbündel in der einen Hand, die Zeitungen unter den Arm geklemmt, mit der anderen Hand die Haarsträhnen richtend. Sie fühlte die Röte im Gesicht, und den ganzen Tag über trug sie Antonios dunklen, leuchtenden Blick mit sich. Jede Begegnung mit ihm wurde zum Lichtblick des Tages, die sie mindestens für Momente die schreckliche Krankheit des Vaters und die drohende Rückkehr ins Puschlav vergessen liess.
Doch das Gefühl der Leichtigkeit zerbarst, sobald sie die Wohnung betrat und Vaters dünne, zerbrechliche Gestalt am Esstisch sitzen sah und Nazzarena, die angespannt Kaffee, Milch und Kakao auftischte.
XVIII
Die Schule begann Anfang Oktober. Aufgeregt stürmten Almas Geschwister in den Laden und zeigten sich stolz in ihren Schuluniformen. Alma verabschiedete eine Kundin und fragte dann Attilio, der mittlerweile die letzte Klasse der elementari besuchte, ob er den Weg noch kenne.
«Ma certo! Was denkst du denn!», antwortete Attilio, der sich für den ersten Schultag noch mehr als sonst herausgeputzt hatte. «Palazzo Brancaccio, Via Giovanni Lanza hinunter, die Via Cavour überqueren und dann hinauf in Richtung Madonna dei Monti. Ganz einfach!»
«Geht jetzt, ihr seid spät dran!» Alma tat beeindruckt, lachte und strich Giacomo, der mit den Tränen kämpfte, über die Haare. Attilio nahm Giacomos Hand und mit den schweren Schultornistern auf dem Rücken und den Verpflegungsbündeln in der anderen Hand rannten die beiden die Via Merulana hinauf. Mittags bekamen sie Suppe, für den Rest des Tages musste das reichen, was Nazzarena ihnen mitgegeben hatte.
Auch der kleine Pietro, der schon längst lesen und schreiben konnte, strahlte. Endlich durfte er den Kindergarten besuchen! Die Nonnen werden bestimmt entzückt sein über den gescheiten Bub mit dem Engelsgesicht, dachte Alma. Sie beneidete die Geschwister dafür, dass sie noch zur Schule gehen durften.
Wie vermisste sie den Unterricht! Vor zwei Jahren hatte sie die complementari beendet. Zu ihrem grossen Bedauern war danach keine Rede davon gewesen, in das ginnasio überzutreten oder die Ausbildung zur Lehrerin zu absolvieren. Für Vater war das nicht in Frage gekommen, und ihre bange Frage hatte er damit abgetan, dass auch keine ihrer Freundinnen weiter zur Schule gehe. Ausser Angela, aber die sei ja ohnehin nicht ganz normal. Alma könne bei der Buchhaltung mithelfen, das habe sie ja gelernt. Ausgerechnet!, hatte Alma damals gedacht und seither keinen Schritt in das Buchhaltungszimmer mehr gemacht. Dann doch lieber die Geschwister hüten oder Wäsche waschen.
«Ciao, ciao!» Irene und Pietro drehten sich um und winkten.
Alma stand auf der Türschwelle des forno und sah ihnen nach. Mutter begleitete die beiden über die Strasse zum Istituto delle figlie di Sant’Anna an der Ecke zur Via Buonarroti. Das Institut, in dem auch Alma zur Schule gegangen war, befand sich in einem unscheinbaren Gebäude, in dessen Erdgeschoss ein Barbier und ein Stoffhändler ihre Geschäfte führten. Daneben war das Haushaltgeschäft der beiden älteren Damen.
Alma erinnerte sich an den Innenhof mit dem mit Mosaiken ausgelegten Fussboden, dem plätschernden Brunnen, dem purpurn blühenden Oleander und den Palmen, in deren Schatten sie die Pausen verbracht hatten. Wenn man Glück hatte, ging das Klassenzimmer auf die Via Merulana. Von dort waren die Geräusche der Strasse heraufgedrungen, und man hatte sich ausgemalt, was unten gerade los war. Doch wehe, wenn die Lehrerin eine Schülerin erwischt hatte, die nicht zuhörte! Erbarmungslos waren sie zurechtgewiesen worden. Die Schulzimmer zur Via Buonarroti hingegen hatten als langweilig gegolten, denn dort war nur das Hämmern des Steinhauers aus der Via Giusti zu hören gewesen.
Irene besuchte, wie in ihrem Alter auch Alma, die complementari. Diese Schulkurse sollten die Schülerinnen auf ihre Rolle als Mutter und Erzieherin, Hausfrau und Vorgesetzte vorbereiten. Im Laufe der Schuljahre hatte Alma mit Rachele und Marianna Freundschaft geschlossen. Und auch mit Rosa, der Tochter des Grysmayrs, eines österreichischen Pferdehalters. Ihr Schulweg war so kurz gewesen, dass die Freundinnen schon als kleine Mädchen um einen zusätzlichen Häuserblock herumgegangen waren, um nicht gleich nach Hause zurückkehren zu müssen. Später, in den oberen Klassen, mit vierzehn oder fünfzehn Jahren, waren sie regelmässig durch das Quartier gestreift. Oft hatten sie den Hof von Rosas Vater aufgesucht. Dort, im unteren Teil der Via Merulana, in der Nähe des Stadttors, hatte der Grysmayr die Pferde der Aristokraten, die an Turnieren geritten wurden, in Pension. Rosa hatte heimlich für den Stalljungen geschwärmt, der Tag für Tag die Pferdeboxen reinigte, und Rachele für den Sohn eines reichen römischen Bankdirektors. Kichernd hatten sie jeweils beobachtet, wie der eine das Pferd sattelte, mit dem der andere ausritt. Für Alma hatte es dort viel zu sehr nach Mist gestunken.
Dem Schulunterricht war stets ein Gottesdienst vorausgegangen. Alma sah sich kniend die Kommunion empfangen. In der Schuluniform, dem knöchellangen, dunkelblauen Rock und der weissen Bluse mit den langen Ärmeln. Dann der Marsch