Almas Rom. Patrizia Parolini

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Название Almas Rom
Автор произведения Patrizia Parolini
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302410



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Auf dem Platz vor der Bar verkaufte sor Augusto die Abendzeitungen. Er war aufgebracht. Offenbar hatten es die frecheren der Quartierkinder wieder einmal zu bunt getrieben mit ihm. Keine dummen Bemerkungen heute, dachte Alma erleichtert und wollte schon an ihm vorbeigehen, als er ihr zurief. Sie winkte ab, doch er hielt ihr etwas hin.

      «Für das Fräulein, vom Geliebten!», bemerkte er ungehalten, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

      Alma schnappte sich den Zettel, wandte sich rasch ab und folgte den Kleinen in die Bar. Rauch und Erregung nahmen ihr den Atem. An den Holztischen hockten Männer mit Wein- und Schnapsgläsern vor sich. Die einen kauten Tabak, die anderen hielten eine Zigarette zwischen den Fingern. Einige lehnten am Tresen. An der Holzwand dahinter hing ein goldgerahmter Spiegel.

      Hinter dem Tresen stand einer der Kellner mit einer weissen Serviette über dem Unterarm. Links von ihm war die Kasse mit den grossen Knöpfen und Tasten, rechts die Tür zum Laden. Energisch schob er die Kinder in Richtung Bäckerei. Eigentlich waren Bar und forno tabu für sie, doch das kümmerte sie wenig.

      Alma fühlte das Papier in ihrer Hand. Was war das? Von Antonio ? Sie musste es wissen, bevor Mutter sie sah. Sie faltete den Zettel mit zittrigen Fingern auseinander. «Morgen. Siebzehn Uhr. Bei den Trajansthermen. Kommst du?», las sie. Darunter in Grossbuchstaben «Antonio». Ihr wurde heiss. Sie liess den Zettel in ihrer Rocktasche verschwinden. Wie sollte sie das bloss anstellen? Wenn nur sor Augusto sein Maul hielt!

      Der Laden war voller Kunden. Lärm und ein strenger Geruch nach Schweiss, Rauch und Brot schwappten ihr entgegen.

      Mutter dirigierte die Kleinen zum Laden hinaus. «Geht hinauf, Attilio hat ein neues Heft von Senza Famiglia.»

      Giacomo und Pietro machten Luftsprünge und verschwanden sofort, sie liebten die Abenteuergeschichten von Malot.

      Folco verzog das Gesicht. «Ich will aber Bilbolbul hören!»

      «Dann frag Irene. Vielleicht liest sie dir aus dem Corriere dei Piccoli vor.»

      «Mannaggia, nicht schon wieder das Negerlein!», wehrte Irene ab und äffte mit den Händen nach, wie Bilbolbul die Augen aus den Augenhöhlen heraus- und zurückspickten.

      «Alma, kommst du?», rief Mutter.

      Clemente zerrte einen schweren, braunen Sack voll Reis zur Theke, wo bereits der mit Pasta gefüllte Sack stand.

      Alma seufzte, anstatt Getreide und Teigwaren abzufüllen, hätte sie jetzt viel lieber Rachele aufgesucht oder sich in ihr Zimmer verkrochen, um von dem jungen Mann mit dem Strohhut und den dunklen Augen zu träumen. Bis sie sich beruhigt hätte. Dann würde auch sie sich in das Buch vertiefen, das sie gerade am Lesen war, einen Liebesroman aus der Buchreihe für junge Fräulein. Und, kam ihr in den Sinn, sie hatte die neue Folge des Fortsetzungsromans auf Seite drei der Tageszeitung noch nicht gelesen.

      Clemente schleppte einen Kanister Olivenöl herbei, stellte ihn ab und verschnaufte. Mutter bediente, Tiziano sass an der Kasse.

      Alma schaute zur Kundin, die sich an die Ladentheke drängte. Sie schien ihr Meilen entfernt. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte mit höflicher Miene, was sie wünsche.

      Auf einmal entdeckte Alma Angela, die an der Tür stand und wild gestikulierte. Ihre schräg stehenden, dunklen Augen blickten unternehmungslustig, die schwarzen Haarlocken schaukelten in alle Richtungen. Almas Gesichtszüge hellten sich auf.

      «Alma, komm schon!», rief sie aufgeregt.

      «Ich kann jetzt nicht», bedeutete ihr Alma.

      «Ich bin mit dem Fahrrad da!»

      «Mit der bicicletta von signorina Balducci?» Alma schmunzelte.

      Die signorina Balducci war eine gepflegte ältere Dame, die allein an der Via di Olmata, einer kurzen Gasse gegenüber von Santa Maria Maggiore, wohnte, im gleichen Wohnblock wie Angela. Man erzählte sich, dass sie früher einmal eine attraktive Frau gewesen und täglich auf dem Fahrrad mit wehenden Röcken und unter dem Kinn fest gebundenem Hut zur Arbeit auf der Zentralpost an der Piazza San Silvestro gefahren sei. Seit sie nicht mehr arbeitstätig war, hatte man sie manchmal mit Freundinnen in die Campagna ausfahren sehen. Aber eines Tages war sie gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Seither hinkte sie mit dem Gehstock durch die Strasse, und das Zweirad stand unbenutzt im schmutzigen Innenhof des Wohnhauses. Es war, als habe der Unfall auch ihre Seele geknickt, denn sie war alt und müde geworden. Angela bewunderte die einst so temperamentvolle Frau und hatte sich anerboten, für sie die Besorgungen in der Stadt zu machen. Dafür hatte signorina Balducci ihr erlaubt, das Fahrrad zu benutzen. Nun stand es vor dem forno an die Wand gelehnt. Grasgrün, mit tiefem Einstieg und sandfarbenem Schriftzug.

      «Dai, komm schon. Setz dich auch wieder einmal drauf!»

      Es war nicht das erste Mal, dass Angela mit dem Fahrrad von signorina Balducci aufkreuzte, um auch Alma fahren zu lassen.

      «Heute nicht!»

      «Alma, du solltest öfter üben! Sei nicht immer so übertrieben vorsichtig!» Angela stemmte ihre Fäuste in die Hüfte.

      «Schau, der Laden ist voll, heute geht es wirklich nicht! Aber hör mal, tust du mir einen Gefallen?» Alma hatte einen Geistesblitz. «Kommst du morgen nochmals? Etwas vor siebzehn Uhr? Bitte!», bat sie eindringlich.

      Angela sah die Röte in Almas Gesicht und packte sie an den Schultern. «Ja klar, wenn du mir sagst, wer der Auserwählte ist?»

      «Das erzähle ich dir morgen. Ciao, ich muss jetzt! Komm und hol dein Brot!»

      Aufgeregt kehrte Alma hinter die Ladentheke zurück, wickelte ein kleines Weissbrot in Angelas Einkaufsbündel und schob die Freundin hastig zur Kasse. Diese bezahlte achtunddreissig centesimi und blickte augenzwinkernd zur Freundin zurück.

      Alma sah die sportliche Gestalt mit den wilden schwarzen Locken, die sich selbstbewusst auf das grasgrüne Fahrrad setzte und davonpedalte. Alma schaute weder nach links noch nach rechts, um sich nichts anmerken zu lassen, tat einen tiefen Atemzug und spürte, wie ihr Blut schnell pulsierte. Sie war zugleich glücklich und verwirrt.

      In dieser Nacht konnte sie fast nicht schlafen.

      XX

      Am nächsten Tag schlich Alma um die Theke herum, an der Kasse vorbei und zum Ausgang, als sie Angela auftauchen sah. Es war nachmittags kurz vor fünf Uhr. Angela hielt ihr das Fahrrad hin.

      «Halt mich fest, halt mich fest, ich weiss nicht, ob ich das noch kann.» Alma stieg auf, hielt die Beine von sich gestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und blickte geradeaus. Das Rad rollte langsam auf der leicht abschüssigen Strasse.

      «Geht doch! Jetzt musst du mir aber erzählen, was los ist!» Angela ging in grossen Schritten neben ihr her. «Sonst wäre ich nicht gekommen!»

      Alma schaute sie aus ihren graubraunen Augen an, ihre Hände hielten krampfhaft den Lenker. Angela war schon so oft von zu Hause abgehauen, hatte jede Regel gebrochen, die ihr nicht passte, und hatte dann zur Strafe tagelang das Haus nicht verlassen dürfen. Trotzdem war sie für jede Art Abenteuer zu haben, je ungehöriger desto besser.

      Alma erzählte ihr von Antonio und vom Zettel, den sor Augusto ihr gegeben hatte. Am Ende der Via Mecenate stieg Alma ab, packte Angelas Arm und hielt ihr das grüne Fahrrad hin. «Bitte, kannst du hier auf mich warten? Wenn Vater das erfährt, gibt’s ein Donnerwetter!»

      «Macché, lass den doch wettern!»

      «Dann sterb ich! Bitte!», flehte Alma.

      «Gut, ich mache ein paar Runden und komme dann hierher zurück. Und grüss mir deinen Angebeteten!»

      «Danke! Danke! Danke!»

      «Schon gut!»

      Alma strich ihren Rock glatt und ordnete das Haar. Plötzlich fragte sie sich, was sie tat. In einem Monat würde sie Rom verlassen, das tat schon weh genug, was traf sie sich da noch mit Antonio?