Almas Rom. Patrizia Parolini

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Название Almas Rom
Автор произведения Patrizia Parolini
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302410



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verstohlen angeschaut. Kaum war Vater weg gewesen, hatten sie zu erzählen begonnen.

      Alma seufzte, drehte sich zur Wand und versuchte, zu schlafen. Ihr war heiss und die Sorge um den Vater schnürte ihr die Kehle zu. Vater sei sehr krank, hatte Mutter ihr beim Aufräumen in der Küche gesagt. Und auf ihre Frage, was denn los sei, hatte sie erwähnt, dass der Arzt von drei Monaten gesprochen habe.

      Drei Monate wofür?

      Drei Monate zu leben!

      September, Oktober, November. Und dann? Dann sollte er nicht mehr da sein? Die Familie allein, ohne ihn? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Und was würde aus dem Geschäft?

      Sie würden zurückkehren in die Heimat, hatte Vater ihnen erklärt, als er von der Backstube zurück im salottino, dem Eckzimmer im vorderen Bereich der Wohnung, vorbeigeschaut hatte, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Er müsse! Das sage der Arzt.

      Vielleicht will er auch, ging es Alma durch den Kopf.

      Nur vorübergehend, hatte er beschwichtigt, als sie ihn entsetzt angeschaut hatte. Der rigorose Ton in seiner Stimme hatte weitere Fragen vom Tisch gewischt. Einige Monate in den Bergen würden ihm gut tun, hatte er beigefügt, als er hinausging.

      Ob er damit sich selbst hatte Mut machen wollen? Zuversicht hätte anders getönt, fand Alma besorgt.

      Wie gelähmt hatte sie dagesessen, während Attilio mit Begeisterung reagiert und die Kleinen damit angesteckt hatte. Er hatte einmal ein ganzes Schuljahr im Puschlav verbracht und schwärmte noch immer von jener Zeit voller Abenteuer, in der er viele neue Freunde gewonnen hatte.

      Sie würde lieber bleiben, hatte Mutter zu Alma bemerkt, als die Kleinen im Bett waren. Sie hatte vage von einer Wohnung in San Saba gesprochen, auf dem Aventin.

      Alma wollte auf jeden Fall bleiben. Die Wochen in Gavignano reichten ihr. Allein den Gedanken, die Stadt und mit ihr auch ihre Freundinnen zu verlassen und künftig in einem Bergdorf zu leben, fand sie unerträglich. Das konnte nicht sein! Doch je mehr sie versuchte, ihn zu verscheuchen, desto bedrängender wurde er. Sie betete darum, dass Vater so bald wie möglich gesund würde und dass alles nur ein böser Traum sei. Sie nahm sich vor, noch gehorsamer und fleissiger zu sein. Auf jeden Fall musste sie Rachele sehen und ihr alles erzählen.

      Ein frischer Luftzug strich vom Fenster her über Alma hinweg. Schemenhaft sah sie die Umrisse des Waschkrugs auf der Kommode am Ende des Bettes. Sie schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.

      X

      Cristoforo stand auf einer hohen Brücke, die Sonne stach, ihm schwindelte, er hörte jemanden von einem Mörder sprechen, Sturmglocken läuteten, ihm wurde wärmer und wärmer. Schweiss brach aus, er schreckte auf, streckte die Hand aus und brachte den Wecker auf seinem Nachttisch zum Schweigen. Sein Herz klopfte heftig. Es war ein Uhr morgens. Das Monster mit dem Feuermaul verwandelte sich in die Madonnenstatue mit dem Kerzenstummel, die zwischen dem Fenster und der Durchgangstür zum salottino stand. Er strampelte das Bettlaken von seinem Körper und streckte Arme und Beine von sich. Er hatte kaum geschlafen und fühlte sich zerschlagen. Wie immer in den letzten Wochen. Die ganze Nacht hatte er sich verzweifelt hin- und hergewälzt, und jetzt war ihm, als sei er eben erst zu Bett gegangen. Kaum war er wieder halbwegs bei Sinnen, brach die ganze Bedrohung der vergangenen Tage wieder über ihn herein. Ah, der Arzt! Er schauderte. «E-sau-ri-men-to. Aufhören. Zurückkehren. Basta!», hörte er dessen feste Stimme. «Sonst bist du in drei Monaten tot.»

      Tot, tot, echote es in seinem Kopf. Nein, es ist zu früh zum Sterben, versuchte er, schwach und voller Angst, dem Echo entgegenzuhalten. Zitternd quälte er sich aus dem Bett und zog sich an.

      Anna drehte sich vom Rücken auf die Seite und murmelte etwas im Schlaf.

      Sie ist gut gebaut und von robuster Gesundheit, dachte Cristoforo mit einer Mischung aus Stolz und Verzweiflung. Über dem Bett hing das holzgerahmte Hochzeitsfoto. Er war einunddreissig gewesen, Anna dreiundzwanzig. So jung damals! Er dachte an Alfredino, der mit eineinhalb Jahren viel zu früh gestorben war, an die kleine, süsse Amelia, auch sie, mit drei Jahren gegangen vor ihrer Zeit. Seither war das schüttere Haar an seinen Schläfen grau und die Stirn kahl.

      Aber seine Anna war stark. Unermüdlich erledigte sie die endlose Hausarbeit, kümmerte sich liebevoll um die Erziehung der Kinder und half klaglos im Laden mit. Sie war gutmütig mit allen und umgänglich mit den Kunden. Selten wurde sie laut, nur dann, wenn jemand sie übers Ohr hauen wollte oder wenn die Kinder vor lauter Übermut gar nicht mehr gehorchten.

      Traurig wandte sich Cristoforo ab. Er war müde. Müde in Kopf und Körper. Leise verliess er das Zimmer und schleppte sich in die Backstube hinunter, wo die Bäcker bereits mit der Arbeit begonnen hatten.

      Als es dämmerte, strömten die Händler und die Bauern in die Grossstadt. Sie kamen von den Dörfern und den landwirtschaftlichen Gehöften ausserhalb der Stadtmauern. Auf den von Pferden gezogenen Gefährten stapelten sich Kisten und Körbe mit Gemüse und Früchten, Fisch- und Fleischwaren. Obenauf duftende Blumensträusse in allen Farben. Es begann mit dem Rattern der Karren auf der gepflästerten Strasse, dem Widerhall der Hufe zwischen den Häuserfassaden und den ersten Morgengrüssen, die bald in ein fröhliches Stimmengewirr übergingen. Die frühmorgendliche, fast heilige Stille verwandelte sich unversehens in das laute hektische Treiben der Marktfahrer.

      In Cristoforos forno wurden die Brote der ersten Ofenbleche auf fahrbaren Kisten in den Laden gebracht, während einer der Kellner in der Bar nebenan die saracinesche – die Rollgitter – hinaufschob. Tiziano füllte die Regale, Cristoforo und der Verkäufer hetzten zwischen Ladentisch und Regal hin und her, streckten sich zu den obersten Tablaren und duckten sich zu den Körben am Boden. Pagnotte und pagnottelle, sfilatini, ciriole und cuscinetti, marchigiani und napoletani. Nach allem wurde verlangt. Clemente sass an der Kasse, auf einem Podest neben einer der drei weit geöffneten Flügeltüren, und tippte ununterbrochen. In der heissen Backstube arbeiteten die Bäcker mit Hochdruck, alle mit entblössten Oberkörpern. Sie brüllten und fluchten, während der Duft der frisch gebackenen Brotwaren auf die Strasse hinausströmte und auch Unschlüssige und Verspätete herbeilockte.

      Nach diesem ersten Ansturm lehnte sich Cristoforo an den Türrahmen, sog die morgendlich kühle Luft ein und zündete eine Zigarette an. Es würde die einzige bleiben, nahm er sich vor, hatte ihm doch Dottor Venditti das Rauchen strikt verboten. Er rief den Zeitungsausläufer der Frühschicht herbei und wechselte einige Worte mit Vorbeigehenden. Immer wieder zwirbelte er seinen Schnurrbart nach oben. Sorgen und Beschwerden waren vorübergehend vergessen.

      Später füllte Cristoforo ein Stoffbündel mit Brot. Wenn manchmal maritozzi übrigblieben, die weichen, mit Rosinen und Orangenschalenstückchen versehenen Brötchen, mit Rahm gefüllt und Zucker bestäubt, nahm er sie mit in die Wohnung, dann freuten sich die Kinder ganz besonders. Der lange Tisch im Esszimmer war gedeckt, Nazzarena hatte dampfenden Kaffee, Milch und heissen Kakao aufgetischt.

      XI

      Ratsch! Mit Schwung zog Nazzarena die schweren olivgrünen Vorhänge zurück.

      Alma, auf dem Weg zum Badezimmer, sah, wie ihre Füsse den Kontakt zum Boden verloren, als sie sich über das Fensterbrett beugte, um die Fensterläden aufzustossen. Tageslicht drang in das grosse, hohe Zimmer mit der dunkelgrünen Tapete. Die Buben räkelten sich in ihren Betten. Romeo zog sich das Bettlaken über den Kopf, Attilio sass auf der Bettkante und liess die Beine baumeln, Giacomo entwischte der Gouvernante und rannte barfuss an Alma vorbei und über den Flur ins Elternzimmer, wo er zur Mutter ins Bett schlüpfte. Der kleine Folco schlich hinüber zu Pietro, der beim eindringenden Morgenlicht den Kopf ins Kissen gesteckt hatte und nicht aufstehen mochte. Folco riss ihm das Bettlaken weg. Pietro schoss auf wie eine Rakete. Nazzarena packte die beiden und setzte sie nacheinander auf den Nachttopf.

      Alma wandte sich ab und verschwand im Badezimmer. Irene folgte ihr. Beide waren bereits angezogen. Seit Alma im Jahr davor ihre erste Blutung gehabt hatte, machte Irene ihr alles nach. Morgens riegelte auch sie das Badezimmer ab, band ihr Haar nicht im Nacken, sondern ebenfalls, wie es Mode war, hoch auf dem Kopf zusammen und benutzte Almas Parfum.