Mia und die Schattenwölfe. Corina Sawatzky

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Название Mia und die Schattenwölfe
Автор произведения Corina Sawatzky
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076933



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drosselte Windipuss die Kutsche, denn ein dicker Ast hing quer über den Waldweg, sodass das Gefährt nicht passieren konnte.

      Tante Anna fixierte den großen Baum, zu dem der Ast gehörte, und fragte laut: „Meister Rombert, wärt Ihr wohl so freundlich, uns vorbeizulassen?“

      Daraufhin öffneten sich mitten in dem Baumstamm träge zwei Augen und blickten in ihre Richtung. Nun erkannte Mia auch eine Nase, die sie vorher für eine einfache Ausbuchtung der Rinde gehalten hatte, und einen Mund, der gemächlich zu sprechen ansetzte.

      „Oh, Frau Anna“, sagte der Baum mit tiefer, behäbiger Stimme. „Was für ein Vergnügen, Euch zu sehen! Natürlich mache ich Euch gerne Platz!“

      Langsam hob sich der Ast nach oben und gab den Waldweg frei.

      „Vielen Dank, Meister Rombert. Und einen schönen Tag noch!“, rief Tante Anna, als die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte.

      Mia war fassungslos. Sie hatte sich ja viel ausgemalt, was ihr im Magischen Wald alles begegnen könnte. Doch trotz ihrer lebhaften Fantasie hätte sie es niemals für möglich gehalten, auf was für unglaubliche Wesen sie hier treffen würde. Immer noch staunend beschloss sie, sich von nun an über nichts mehr zu wundern.

      Gerade als sie diesen Entschluss gefasst hatte, vernahm sie einen lieblichen, zarten Gesang. Neugierig hielt sie nach dessen Ursprung Ausschau und entdeckte links neben dem Waldweg ein außergewöhnliches Blumenbeet. Die verschiedensten Arten von Blumen standen ordentlich in Reih und Glied neben- und hintereinander. Genau wie der Baum von eben hatten auch die Blumen Gesichter. Aus ihren zierlichen Mündchen kamen die lieblichen Stimmen, die Mias Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Die Blumen sangen!

      Eine einzelne Blume – eine große lila Tulpe – stand vor der Gruppe und schwenkte ihre Blätter, als würde sie dirigieren.

      Auf einmal ertönte ein Ton, der überhaupt nicht zu der übrigen Melodie passte. Eine kleine rosa Lilie schlug sich eine Hand, oder besser gesagt ein Blatt, vor den Mund und auch alle anderen Blumen verstummten betreten.

      Missbilligend tadelte die lila Tulpe die kleine Lilie: „Dorea, du machst immer an der gleichen Stelle einen Fehler! Heute Abend übst du so lange, bis du sie sogar im Schlaf richtig singen kannst. In Ordnung?“

      Die kleine Lilie nickte eifrig.

      Sophie riss Mia aus ihrer faszinierenden Beobachtung, indem sie ihr erklärte: „Der Blumenchor übt für das Sommernachtsfest.“

      „Sommernachtsfest?“, fragte Mia, die kaum ihren Blick von den Blumen wenden konnte.

      „Ja, jedes Jahr im August feiern wir eine riesige Party, das Sommernachtsfest. Dort gibt es köstliche Speisen, erlesene Getränke und vor allem Musik. Man tanzt bis in die späte Nacht hinein und die Mädchen und Frauen übertrumpfen sich gegenseitig mit den prächtigsten Kleidern. Glücklicherweise findet es dieses Jahr genau am Ende unserer Ferien statt und du wirst es bestimmt genießen!“

      „Klingt toll“, antwortete Mia. Im Moment konnte sie allerdings nicht an ein Fest denken, das noch in so weiter Ferne lag. Dafür war sie viel zu gefesselt von der Landschaft, die im Augenblick an ihr vorbeizog. Sie sog die Eindrücke begeistert in sich auf und hätte noch stundenlang so weiterfahren können. Aber da verkündete Tante Anna auch schon: „Jetzt sind wir gleich da.“

      Und tatsächlich erreichten sie bereits wenige Minuten später eine kleine Lichtung, auf der ein Holzhäuschen stand. Es war ein wenig windschief, hatte ein mit Moos bewachsenes Dach und sah sehr urig und gemütlich aus.

      Die Kutsche kam zum Stillstand und Tante Anna machte eine einladende Bewegung. „Hier wohnen wir. Nochmals herzlich Willkommen bei uns zu Hause, Mia!“

      Mit diesen Worten stieg sie aus und nahm Mias Koffer mit. Mia und Sophie folgten ihr.

      Als die drei vor der Tür des Häuschens standen, drang plötzlich ein schnüffelndes Geräusch an Mias Ohr. Und bei näherem Hingucken erkannte sie, dass die Haustür eine große Nase hatte, deren Flügel sich sanft bewegten. Die Tür schnupperte!

      „Ah! Die Hausherrin ist zurückgekehrt“, ertönte wenig später eine knarzige Stimme, die aus dem Inneren der Tür zu kommen schien. Nachdem sie ein weiteres Mal die Nasenflügel gebläht hatte, sprach sie weiter: „Und auch Fräulein Sophie ist dabei.“

      Sie schnüffelte erneut. „Aber da ist noch jemand, den ich nicht kenne!“

      „Ganz recht“, antwortete Tante Anna. „Wir haben einen Gast, der für sechs Wochen bei uns wohnen wird. Sie heißt Mia und ist meine Nichte. Sie ist befugt, das Haus zu betreten, wann immer sie das wünscht. Also nimm bitte eine Geruchsprobe von ihr und lass sie auch dann ein, wenn sie alleine nach Hause kommt!“

      „Wie die Hausherrin wünscht!“, sprach die Tür. „Würde das neue Fräulein wohl etwas näher herantreten?“

      „Geh nur“, ermutigte Tante Anna Mia. „Die Tür muss deinen Geruch intensiv aufnehmen. Nur dann kann sie ihn sich merken und lässt dich ins Haus, wenn du vor ihr stehst.“

      Mia trat beherzt näher an die Tür heran.

      Sofort war ein deutliches Schnüffeln zu vernehmen und die Nasenflügel blähten sich erneut. „Bitte einmal die Arme heben!“, verlangte die Tür.

      Mia tat, wie ihr geheißen, und hörte, wie die Nase mit der Schnüffelei fortfuhr. Die vorbeistreichende Luft kitzelte Mia an den Achseln und brachte sie zum Kichern. Dann hörte das Schnüffeln abrupt auf und die Tür sagte mit ihrer knarzigen Stimme: „Nun denn, hereinspaziert!“ Mit diesen Worten schwang sie nach innen auf und gab den Weg ins Haus frei.

      Mia folgte ihrer Tante und Cousine hinein. Sophie führte sie zuerst im Haus herum und zeigte ihr alle Räumlichkeiten. Das Haus war innen wesentlich weitläufiger, als es von außen den Anschein hatte.

      Im Erdgeschoss befanden sich eine Küche und ein sehr gemütliches Wohnzimmer, von dem aus man in den großen, gepflegten Garten gelangen konnte.

      Vom geräumigen Flur aus führte eine Holztreppe ins Obergeschoss hinauf. Mia stellte auf dem Weg nach oben fest, dass mehrere der Stufen laut und gemütlich knarrten, wenn man darauf trat.

      Am Ende der Treppe befand sich eine kleine Diele, von der mehrere Zimmer abzweigten. Eines dieser Zimmer war Sophies Schlafzimmer. Es war herrlich groß und wunderbar fantasievoll eingerichtet. Besonders angetan war Mia von dem bequem aussehenden Himmelbett, welches breit genug für beide Mädchen war.

      Mit ausgestreckten Armen drehte Sophie sich um ihre eigene Achse und sagte: „Das hier ist mein eigenes Reich und ich freue mich so sehr, es in nächster Zeit mit dir zu teilen. Komm, wir räumen mal deinen Koffer aus. Ich habe schon gestern Platz im Schrank gemacht, damit deine Kleidung auch noch hineinpasst.“

      Nach getaner Arbeit gingen die beiden Mädchen wieder nach unten, da es inzwischen schon Zeit für das Abendessen war.

      Tante Anna hatte den Tisch bereits gedeckt.

      „Setzt euch, ihr zwei Hübschen“, sagte sie. „Mia, du musst nach deiner langen Reise einen Bärenhunger haben!“

      Mia war in der Tat hungrig und trat daher eilig näher an den Tisch. Sie zog einen der Stühle zu sich heran, um darauf Platz zu nehmen. Statt auf der Sitzfläche landete sie aber im nächsten Moment mit einem lauten Plumps mit ihrem Po auf dem Boden.

      „Au!“, rief sie verwirrt. Sie war sich sicher, dass der Stuhl eben noch direkt hinter ihr gestanden hatte und schaute sich irritiert nach ihm um. Verwundert sah sie, dass er sich nicht an der erwarteten Stelle befand, sondern etwa einen Meter hinter Mia.

      „Oh, du unartiger Stuhl!“, rief Tante Anna, die das Geschehen beobachtet hatte. „Geh sofort auf den Dachboden und denk dort über dein Verhalten nach! Ich möchte dich erst morgen Früh wieder hier sehen!“

      Zu Mias maßlosem Erstaunen setzte der Stuhl sich widerwillig in Bewegung, wobei er mithilfe seiner vier Beine wie ein Hund vorwärtslief. Bei der Tür blieb er zögernd stehen. Erst, nachdem Tante Anna „Sofort,