Mia und die Schattenwölfe. Corina Sawatzky

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Название Mia und die Schattenwölfe
Автор произведения Corina Sawatzky
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076933



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etwas von dem Proviant, den ihre Mutter ihr eingepackt hatte, und beobachtete dabei die Landschaft, die am Fenster vorüberzog. Je mehr Zeit verstrich, umso idyllischer wurde die Umgebung. Immer öfter fuhr der Zug durch dichte, grüne Wälder, die Mias Fantasie anregten. Aufgeregt malte sie sich allerlei Abenteuer aus, die sie gemeinsam mit ihrer Cousine im Magischen Wald erleben könnte. Dabei fragte sie sich, ob ihre Vorstellungen überhaupt realistisch waren. Ihrer Mutter waren einfach keine Einzelheiten über den Magischen Wald zu entlocken gewesen. Mia konnte es kaum erwarten herauszufinden, was es mit diesem mysteriösen Ort auf sich hatte.

      Endlich hielt der Zug in Diggelsheim, dem Ort, in dem Mia aussteigen musste.

      Ein kräftiger Mann war so nett, ihr den Koffer zur Tür zu tragen. Mit klopfendem Herzen stieg Mia aus und schaute sich suchend um. Schon gleich erblickte sie ihre Cousine Sophie und Tante Anna, die am Bahnsteig auf sie warteten.

      Sophie war ein hübsches Mädchen. Sie war ein kleines Stückchen größer als Mia, hatte glattes, braunes Haar und strahlend grüne Augen.

      Tante Anna war ebenfalls attraktiv und sah überhaupt nicht wie eine Hexe aus. Jedenfalls nicht wie eine aus dem Märchen: Graue Haare, Hakennase, hässliches Gesicht mit ekligen Warzen darin und so weiter. Im Gegenteil – sie war eine schlanke Frau mit ebenfalls braunen Haaren, die an ihrem Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden waren. Um die Augen herum hatte sie kleine Lachfältchen, die ihrem Gesicht eine besonders sympathische Note verliehen.

      Mia rannte auf die beiden zu und fiel Sophie stürmisch um den Hals. „Ist das nicht herrlich?“, rief sie. „Ganze sechs Wochen nur für uns!“

      Sophie strahlte ebenfalls über das ganze Gesicht. „Wir werden eine irre schöne Zeit haben!“, erwiderte sie.

      Dann begrüßten auch Tante Anna und Mia sich mit einer freudigen Umarmung.

      „Willkommen!“, sagte Anna herzlich. „Wir freuen uns, dass du uns besuchen kommst! Deine Mutter hat dir erzählt, wo wir wohnen, nicht wahr? Na, dann wollen wir mal!“

      Mit diesen Worten ergriff sie Mias Koffer und steuerte auf ein gelbes Taxi zu, das am Bahnhofsausgang auf Fahrgäste wartete. Tante Anna forderte die beiden Mädchen auf, schon einmal einzusteigen. Sie selbst verstaute zunächst Mias Gepäck im Kofferraum. Anschließend nahm sie auf dem Beifahrersitz Platz und sagte zu dem Taxifahrer: „In den Waldweg, bitte.“

      Der Mann hinter dem Lenkrad schaute zwar etwas verwundert drein, fuhr aber los, ohne weiter nachzufragen.

      Von der Umgebung bekam Mia zunächst nicht sonderlich viel mit. Sie und Sophie waren viel zu sehr damit beschäftigt, allerlei Neuigkeiten auszutauschen.

      Erst als das Taxi nach einer Weile seine Fahrt verlangsamte und schließlich zum Stehen kam, schaute Mia neugierig zum Fenster hinaus. Sie war verblüfft zu sehen, dass sie mitten auf einem Waldweg standen, der gerade breit genug für ein Auto war. Zuerst dachte Mia, sie würden nur einen kleinen Zwischenstopp einlegen. Daher war sie mindestens genauso erstaunt wie der Taxifahrer, als Tante Anna wie selbstverständlich verkündete: „Ja, genau hier steigen wir aus.“

      Nachdem sie den Fahrer bezahlt hatte, wartete Tante Anna, bis das Auto außer Sichtweite war. Erst dann ging sie entschlossenen Schrittes auf zwei hochgewachsene Birken zu, die sich in einem Abstand von etwa zwei Metern gegenüberstanden. Genau zwischen diesen beiden Bäumen blieb sie stehen und neigte ihren Kopf nacheinander nach links und nach rechts. Die Geste erweckte den Eindruck, als wolle Tante Anna die Birken grüßen und ihnen gleichzeitig Ehrerbietung erweisen. Anschließend hob sie ihre Arme seitlich in die Luft, schloss voller Konzentration die Augen und murmelte leise einige Wörter. Für Mia klangen sie in etwa wie: „Aperta porta aureum“.

      Kaum waren die Wörter ausgesprochen, fing die Luft zwischen den beiden Birken an zu flimmern. Es sah aus, als habe jemand einen Vorhang aus feinem, goldenem Nieselregen zwischen die Bäume gespannt.

      Tante Anna öffnete die Augen nun wieder und machte eine einladende Geste in Mias Richtung. „Bitte schön – das Tor zum Magischen Wald. Tritt einfach hin­durch!“

      Mia zögerte. Die Sache war ihr nicht ganz geheuer. Sophie bemerkte Mias Unbehagen und meinte einfühlsam: „Keine Angst, es ist überhaupt nicht schwer. Mach es mir einfach nach.“

      Mit diesen Worten trat sie resolut in den goldenen Schimmer. Im nächsten Moment war keine Spur mehr von ihr zu sehen.

      Mia war zu verblüfft, um etwas zu sagen, und schaute hilfesuchend zu ihrer Tante. Diese nickte ihr aufmunternd zu und ermutigte sie: „Dir kann nichts passieren und es tut auch kein bisschen weh. Sophie erwartet dich auf der anderen Seite.“

      Also atmete Mia einmal tief durch und ging vorsichtig auf die schimmernde Wand zu. Kurz davor blieb sie stehen und zögerte erneut. Dann gab sie sich einen Ruck, schloss sicherheitsshalber die Augen und machte einen großen Schritt vorwärts. Ein seltsames Gefühl ergriff Besitz von ihr. Es war wie ein leichtes elektrisches Kribbeln – nicht unangenehm, aber höchst sonderbar. Im nächsten Augenblick war es auch schon vorüber. Mia öffnete die Augen und sah sich um. Vor ihr stand Sophie und grinste sie an. Ansonsten hatte sich nicht allzu viel verändert. Der Wald sah ein wenig dichter aus und die Farben kamen Mia etwas intensiver vor. Aber wenn sie erwartet hatte, dass plötzlich ein Lebkuchenhäuschen samt Hexe davor auftauchen würde, hatte sie sich getäuscht.

      Sie drehte sich zu dem Tor um, durch das sie gerade gekommen war. Eben in diesem Augenblick trat Tante Anna wie selbstverständlich durch den goldenen Schimmer. Direkt danach klatschte sie zweimal in die Hände, rief: „Diffuso“, und das Tor war ebenso schnell verschwunden, wie es zuvor aufgetaucht war.

      „Da wären wir also!“, sagte Tante Anna fröhlich zu Mia. „Das hier ist der Magische Wald. Jetzt müssen wir nur noch zu unserem Haus fahren. Es ist aber nicht mehr sehr weit – du hast die Reise bald geschafft.“

      Gerade fragte sich Mia, womit sie wohl zu dem Haus fahren sollten, als sie eine Kutsche entdeckte, die fast gänzlich hinter einem großen Busch verborgen war.

      Seltsamerweise war kein Pferd vor die Kutsche gespannt und auch in der näheren Umgebung konnte Mia keines entdecken. Dafür zog ein kleines Männchen, das auf dem Kutschbock saß, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war nur ungefähr halb so groß wie Mia, sah reichlich verhutzelt aus und hatte unglaublich dicke Pausbacken. Wie um sein ziemlich unansehnliches Äußeres wettzumachen, war das Männchen besonders elegant angezogen. Es trug einen schicken schwarzen Anzug an seinem kleinen Körper und einen ebenfalls schwarzen Zylinder auf dem nicht ganz so kleinen Kopf.

      Sophie stellte die beiden einander vor: „Das ist Mia, meine Cousine. Und das ist Windipuss, unser Kutscher.“

      „Erfreut“, nuschelte das Männchen mit dem Namen Windipuss und zog dabei galant seinen Hut.

      Mia war fast zu erstaunt, um antworten zu können, brachte dann aber doch noch ein „Danke, ebenfalls“ hervor.

      Nachdem sie in die Kutsche gestiegen waren, wollte Mia gerade fragen, wie sie ohne Pferd vorwärtskommen sollten. In diesem Augenblick zog Windipuss an einem Seil, woraufhin sich eine Art Fallschirm vor der Kutsche entfaltete. Im nächsten Moment holte das Männchen so tief Luft, dass sich seine Backen prall aufbliesen. In jede Seite passte etwa so viel hinein wie in fünf große Luftballons zusammen und Mia hatte schon Angst, die Wangen würden zerplatzen. Doch dann stieß das kleine Kerlchen die Luft mit einem festen Stoß in Richtung des Fallschirmes aus. Dieser blähte sich daraufhin auf und zog die Kutsche mit einem sanften Ruck nach vorne.

      So ging es ohne Unterbrechung weiter. Kaum hatte Windipuss in den Fallschirm gepustet und somit die Kutsche angetrieben, holte er auch schon das nächste Mal Luft und blies sie erneut nach vorne aus. Auf diese Weise kam die Kutsche stetig und sogar recht flott voran.

      Mia kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, entspannte sich aber schnell und begann, die Fahrt in vollen Zügen zu genießen. Neugierig betrachtete sie die Landschaft, die nun an ihr vorüberzog.

      Die Kutsche fuhr einen schmalen Waldweg entlang. Links und rechts von ihm befanden sich Bäume, Wiesen und Büsche, so weit das Auge reichte. Ab und zu sah Mia allerdings