Название | Philosophien der Praxis |
---|---|
Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846351345 |
Konstitutionstheorie und Formreflexion ähneln sich sehr: Beide verstehen die Sozialität der Vernunft als begrifflich an soziale Vollzüge gebunden, und beide verstehen die Normativität der Vernunft also genealogisch bestimmt (vgl. Menke 2005, Khurana 2017). Beide Lesarten schließlich erklären die Konstitution begrifflicher Gehalte im theoretischen wie praktischen Denken „holistisch“, durch nichts anderes als den Bezug auf soziale Praktiken (vgl. Bertram 2002). Sie |51|unterscheiden sich aber darin, womit sie anfangen, und worin sie ihr (geglücktes) Ende erwarten.
Die konstitutionstheoretische Lesart beginnt mit einer Theorie von Praktiken: einer faktiven Beschreibung von Institutionen, auf die sie die Kraft normativer und begrifflicher Ansprüche zurückführt. Die formreflexive Geistphilosophie zielt auf die wesentliche Spannung (das „dialektische Verhältnis“) zwischen dem (unbedingten, zeitenthoben-objektiven) Anspruch theoretischer und praktischer Gründe einerseits, und andererseits dem Umstand, dass solche Ansprüche nur in einer spezifischen (historischen, sozialen, denkerischen) Situation bestehen, indem sie sich an mehr oder weniger vernünftigen Vollzügen exemplifizieren. Ihr glückliches Ende hat solche Formreflexion in dem Gedanken, dass ein subjektiver geistiger Vollzug dann „gut“ ist, wenn er den objektiv repräsentierten Normen des überindividuellen, allgemeinen Tätigseins entspricht, und diese Entsprechung besteht, wenn der Gedanke an die Norm diese Norm selbst objektiv vorstellt und erfüllt. Im geistigen Tun „bei sich im Anderen sein“ heißt, die Form des Gedankens, den man fasst, als Exempel des wirklichen Vollzugs geistigen Tätigseins begreifen.
Hegels geistphilosophische Umformulierung will Tätigkeit in ihrer wirklichen, aktuellen Ausführung begreifen. Sie ist deshalb nicht bloß ein geistesgeschichtlicher Bezugspunkt der auf sie reagierenden materialistischen Positionen (vgl. weiter Schürmann 2017, 126ff.), sondern (jenseits der schiefen, ideologisch dem neuzeitlichen Empirismus verpflichteten Sortierung „idealistischer“ vs. „materialistischer“ Philosophien) auch sachlich das Urbild einer wahren (nämlich einer mit idealistischen Mitteln formulierten) materialistischen Praxisphilosophie (vgl. Holz 2010; Rödl 2007, 14f.). Womit aber fängt diese auf das Begreifen der Form wirklichen geistigen Tätigseins zielende Praxisphilosophie an?
3.2. Wie fängt Praxisphilosophie „unbefangen an“?
Wie fängt man das Nachdenken über wirkliches geistiges Tätigsein an, so dass dabei keine bloß empiristische Beschreibung von Praktiken herauskommt? Hegel schlägt in der methodologischen Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts vor, den Anfang nicht in einem besonderen Gegenstandsbereich, sondern in einer bestimmten denkerischen Haltung zur Sache zu suchen – nämlich der Haltung des (mit ironischer Absicht so genannten) „unbefangene[n] Bewußtsein[s]“ (Hegel 1821, 25). „Unbefangenheit“ ist keine Haltung inszenierter Naivität (und also auch keine Orientierung an einer angeblichen „alltäglichen Normalität“), sondern die Tugend, sich reflexiv von den sprachlichen und denkerischen Deformationen überkommener Denkmodelle zu befreien. Unbefangen ist klar, dass, „[w]as vernünftig ist, […] wirklich; und was wirklich […] vernünftig“ ist (ausdrücklich nicht als eine Forderung an die Wirklichkeit, sie möge irgendwie „vernünftiger“ werden – dann wäre das Nachdenken „selbst nur Eitelkeit“ –, und auch nicht als eine Forderung an das Nachdenken, sich irgendwie nach einer |52|Wirklichkeit zu richten – dann wäre es bloßes Meinen, für dessen Richtigkeit etwas anderes als es selbst zuständig wäre; s. Hegel 1821, 24f.). „Unbefangen“ anfangen heißt „[d]as was ist zu begreifen“ (Hegel 1821, 26).
Das ist eine formale Selbstverständlichkeit: was als Etwas gedacht wird, ist, insofern es für das begriffliche Denken faßlich ist, „vernünftig“ (andernfalls es nicht denk- und vorstellbar wäre). Und indem man umgekehrt Etwas als das, was es ist, denkt und „begreift“, ist das vernünftige Nachdenken „wirklich“. Der normative Ausdruck „vernünftig“ funktioniert hier attributiv: Wirkliches ist vernünftig, insofern es als das, was es ist, nur im kategorialen Rahmen unseres Denkens thematisiert werden kann. Streng genommen wäre es sinnlos, von „wirklichem Nicht-Vernünftigem“ zu reden. – Man darf den Ausdruck „vernünftig“ dabei nicht nur in einer (etwa: moralisch oder politisch) bewertenden Tonlage hören – so, als wäre etwa eine (unterstellt: fraglos) unvernünftige Praktik deshalb, weil sie wirklich ist, in einem bewertenden Sinn „vernünftig“ und damit irgendwie der Kritik enthoben. Hegels Merksatz kontrastiert „vernünftig“ mit seinem kontradiktorischen Gegensatz „nicht-vernünftig“; der polare, privative Gegensatz „unvernünftig“ spielt seine Rolle im Verhalten zum Vernünftigen. So gehört zum Reden über eine fraglos problematische Praktik dazu, sie als problematisch und insofern unvernünftig anzusprechen; andernfalls hätte man etwas Entscheidendes an ihrer Wirklichkeit verfehlt. Wirklichkeit ist stets mehr oder weniger (un-)vernünftig, aber nie nicht-vernünftig.
„Unbefangen“ sucht man (ohne vorschnelle Verpflichtung auf eine bestimmte, gar terminologische Repräsentation) zu begreifen, was einer Sache wesentlich ist. Die Sache, um die es Hegels Praxisphilosophie geht, sind unsere menschlichen Angelegenheiten: unser geistiges Tätigsein. Tätigsein ist ein Vollzug: es ist, was es ist, im wirklichen Denken, im wirklichen Handeln. So kehrt in Hegels Geistphilosophie genau dasjenige Darstellungsproblem wieder, auf das sie reagierte. Einen wirklichen Vollzug ausdrücken heißt, eine Bewegung in ihrem Fortgang, in ihrem Gerade-dabei-Sein ausdrücken: als Vollziehen, das seinen Ursprung und sein Prinzip in sich selbst hat. Deshalb setzt Praxisphilosophie nicht mehr einfach bei einem „Subjekt“ an, sondern bei dem Verhältnis zwischen subjektivem und objektivem Geist. Man kann einen Vollzug nur in zwei spiegelbildlichen Perspektiven ausdrücken, die jeweils das, was sie mitteilen wollen, verzerren: In der aufs Subjekt konzentrierten Perspektive wird der Vollzug von seinem Subjekt her thematisiert; das Ergebnis sind Handlungssätze wie „Ich φ-e“ oder „Ursula ist dabei, zu φ-en“. In der aufs Resultat konzentrierten Perspektive wird der Vollzug von seiner perfektiven, abgeschlossenen, objektiven Gestalt, als vom Subjekt unabhängiger generischer Handlungsbegriff thematisiert. Hegel nennt diese resultative Gestalt des Vollzugs, wie sie in Sätzen wie „es wurde φ getan“ oder „es fand ein φ-en statt“ ausgedrückt wird, „die Tat“.
Hegels darstellungsreflexiver Punkt ist nun, dass die Form von Vollzügen durch das Zusammenspiel dieser beiden verschiedenen Artikulationsweisen charakterisiert ist – diese Verschiedenheit aber „unsichtbar“ wird, wenn man nur auf die propositionalen Gehalte der resultierenden Beschreibungen achtet (wenn man die praktischen Reden nur als Sätze auffasst). In beiden Fällen ist die „Form des Satzes […] die Erscheinung des bestimmten Sinnes oder der Akzent, der seine Erfüllung unterscheidet; daß aber das Prädikat die Substanz ausdrückt und |53|das Subjekt selbst ins Allgemeine fällt, ist die Einheit, worin der Akzent verklingt“ (Hegel 1807, 59). Diese Nivellierung ist, weil sie zur repräsentationalen Form des Satzes gehört, unvermeidlich: Die sprachliche Form drängt das Vorstellen gleichsam fort von dem, worum es gehen soll – dem Vollzug –, und hin auf entweder das Subjekt des Vollzugs, oder auf die allgemeine resultative Form, die er exemplifiziert. Genau an dieser Stelle entsteht die konstitutionstheoretische Auffassung: Sie verliert im „Verklingen des Akzentes“ die Spannung zwischen der subjektiven und der objektiven Perspektive auf den Vollzug aus dem Blick und muss deshalb die Wirklichkeit des Vollziehens auf dessen Ursprung: seine Quelle, „Ursache“, Bedingungen zurückführen. Damit aber hat sie unbemerkt nicht mehr den Vollzug selbst (seine Wirklichkeit), sondern seine Bedingungen (seine Möglichkeit) im Blick. – Den Vollzug selbst, meint Hegel, bekommt man nur als Spannung zweier irreduzibler Beschreibungsperspektiven auf konkretes Tätigsein in den Blick. Deshalb kann man den Vollzug selbst nur mitteilen und darstellen, indem man solche „einerseits-andererseits“-Perspektiven immer wieder durchspielt