Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. Dieter Röh

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Название Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
Автор произведения Dieter Röh
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348765



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im Sinne der Existenzsicherung zu einem modernen Bild als „Soziale Arbeit“ vereint werden.

      Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend, könnte man sagen, dass

      „Soziale Arbeit […] als eine Wissenschaft und Profession definiert [werden kann], die sich – in Abgrenzung zu sozial- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen – mit der konkreten Handlung von Menschen beschäftigt. Sie wird damit selbst zu einer Handlungswissenschaft vom Handeln in sozialen Strukturen und damit zu einer praxeologischen Wissenschaft“ (Röh 2013, 267).

      Übungen zu Kap. 2.2

      4. Verständnisfrage: Wofür steht die Formel von einer „inszenierten Solidarität“?

      5. Diskussions-/ Reflexionsfrage: Welche Gründe sprechen dafür, Soziale Arbeit den Sozialwissenschaften und welche dafür, sie den Geisteswissenschaften zuzuordnen? Was bedeutet es, sie als transdisziplinäre Wissenschaft zu konzipieren?

      2.3 Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit

      Die Relevanz der Sozialen Arbeit in der Rehabilitation stellte bereits Mühlum heraus:

      „Sonderpädagogik und Soziale Arbeit können als gesellschaftlich organisierte Hilfe für Menschen mit besonderen Schwierigkeiten verstanden werden. Ihre Bedeutung für die Rehabilitation steht somit außer Frage. Tatsächlich stellen sie, neben Medizin und Pflege, den größten Bereich personenbezogener Dienste dieses Sektors dar. Ihre Abgrenzung (und Zusammenarbeit) ist jedoch nach wie vor schwierig, weil sich die Aufgaben überschneiden und das Selbstverständnis nicht hinreichend geklärt ist. Sozialarbeit/Sozialpädagogik hier, Sonderpädagogik / Behindertenpädagogik/Heilpädagogik dort stellen mehr als ein Begriffsdilemma dar. Sie drücken auch inhaltliche Unterschiede und berufliche Grundüberzeugungen aus“ (Mühlum 1999, 49).

      Diese von Mühlum formulierte Idee einer professionellen Differenzierung bei gleichzeitiger Forderung einer „ganzheitlichen Perspektive“ soll hier aufgenommen und das Spezifikum Sozialer Arbeit als „ganzheitliche“ Profession zum Ausgangspunkt der Überlegungen zum Gegenstand und der Funktion Sozialer Arbeit genommen werden. Es wird darum gehen, die Soziale Arbeit als Profession bzw. als professionelles Handeln zu bestimmen und diesen Standort für die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe zu erschließen.

      Doch was ist der Gegenstand der Sozialen Arbeit? Mit der 2014 verabschiedeten Definition der International Federation of Social Workers (IFSW) beginnend, kann dieser zunächst wie folgt verstanden werden:

      „Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities are central to social work. Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing“ (IFSW 2014).

      Man sieht, dass die vor allem in Deutschland vorzufindende Trennung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik im internationalen Rahmen unbekannt ist. Anders als in der Definition von 2000, in der gleichermaßen die persönliche Befähigung und die Sicherung der Existenzgrundlagen sowie die Umweltveränderung erwähnt wurden, fokussiert die im 21. Jahrhundert geltende Definition zwar auch die Arbeit an bzw. mit Menschen („people“) und Umwelt („structures“), damit den Herausforderungen des Lebens („life challenges“) begegnet werden kann, verstärkt jedoch den strukturellen Anspruch („promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people“). Diese Dualität von Person und Umwelt ist zwar weit mehr als die reine Addition von Sozialarbeit und Sozialpädagogik, da eher im Sinne von Mühlum (2001) von einer Subsumtion unter den neuen Titel„Soziale Arbeit“ ausgegangen werden kann, jedoch ließe sich das Verhältnis beider wie in Abbildung 1 eher als Konversion darstellen, aus dem ein emergentes Produkt entsteht.

      Abb. 1: Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit

      Ein solchermaßen integratives Modell von Sozialer Arbeit, welches sowohl individuelle als auch Einflüsse aus der Umwelt auf die Entstehung von Sozialen Problemen bzw. die Lebensführung berücksichtigt, kombiniert damit auch den klassisch sozialpädagogischen Zugang zur Lebenswelt der Menschen vor dem Hintergrund ihrer Lebensführung mit dem klassisch sozialarbeiterischen Zugang zur Lebenswelt der Menschen vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit.

      Soziale Arbeit hat es in der beruflichen Realität potenziell mit einer Vielfalt von verschiedenen menschlichen Problemen zu tun und konkret jeweils mit bestimmten menschlichen Lebenslagen, in denen häufig vielfältige Probleme auftreten.

      Die Probleme sind dabei in ihrer Wirkung im doppelten Sinne als soziale Probleme zu bezeichnen, und zwar zunächst im gesellschaftlichen Rahmen als verbreitete Phänomene (Armut, Obdachlosigkeit, Gewalt, Sucht, Beeinträchtigung, Kindeswohlgefährdung usw.) und gleichzeitig als Probleme von Individuen in ihrer Umwelt und damit Probleme der Lebensführung.

      Ich betrachte Soziale Arbeit daher als „jene Humanprofession und -disziplin […], die sich als Expertise für die Zusammenhänge von Subjekt und Gesellschaft verstehend, erklärend und bei Bedarf intervenierend (beratend, vermittelnd, unterstützend, empowernd etc.) mit deren Wechselwirkungen beschäftigt“ (Röh 2016a, 218 f.). Mithilfe des Capabilities Approach und des Kritischen Realismus habe ich (Röh 2013) eine allgemeine Handlungstheorie formuliert, die Soziale Arbeit als Unterstützung einer „daseinsmächtigen Lebensführung“ definiert. Ohne das an dieser Stelle ausführlich darstellen zu können (Kap. 4.2.5), sollen bzgl. der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen vorab folgende Ableitungen getroffen werden:

      ■ Das Leben mit Beeinträchtigung ist wie alles menschliche Leben von der Notwendigkeit geprägt, das eigene Leben über die gesamte Lebensspanne führen zu müssen.

      ■ Neben individuellen Beeinträchtigungen (in der ICF-Terminologie als Störungen der Körperstrukturen oder Körperfunktionen bezeichnet), die ich in meiner an den Capabilities Approach angelehnten Terminologie als Einschränkungen des „persönlichen Möglichkeitsraums“ verstehe (Röh 2013 und Röh 2016b), stehen dabei vor allem die Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen im Mittelpunkt der Bewältigung. Diese verstehe ich als Probleme des „gesellschaftlichen Möglichkeitsraums“, wobei sich in den Aktivitätseinschränkungen auch Probleme des „persönlichen Möglichkeitsraums“ zeigen.

      ■ Ein daseinsmächtiges oder gutes Leben ist von dem sinnvollen „Ins-Verhältnis-Bringen“ des persönlichen und gesellschaftlichen Möglichkeitsraums geprägt. Eine vollständige Übereinstimmung könnte Inklusion oder Teilhabe bedeuten, ist aber angesichts bei allen Menschen und Gesellschaften vorfindlichen Restriktionen eher als unwahrscheinlich anzusehen. Das Ziel eines in dieser Hinsicht besseren Passungsverhältnisses ist jedoch das Ziel Sozialer Arbeit.

      ■ Behinderung als solches (anders als die Beeinträchtigung) selbst ist ein sowohl individuelles wie auch soziales Problem, insofern sich Umweltgestalt und Umweltbedingungen sowie individuelle und soziale Ressourcen und Probleme zu einer für den Einzelnen wie für die Gesellschaft zu bewältigenden Einheit verbinden.

      ■ Das im engeren Sinne sozialpädagogische Ziel in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen besteht daher in der größtmöglichen Förderung von Autonomie, Selbstbestimmung und soweit es geht auch Selbstständigkeit in der alltäglichen Lebensführung.

      ■ Das im engeren Sinne sozialarbeiterische Ziel liegt in der Verbesserung der Person-Umwelt-Transaktionen, d. h. in der Befriedigung der biopsychosozialen Bedürfnisse eines Menschen (mit Beeinträchtigungen).

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