Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. Dieter Röh

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Название Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
Автор произведения Dieter Röh
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348765



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Arzt Julius Disselhoff (1827– 1896), die „Blödsinnigen“, da er in ihnen vor allem bemitleidenswerte Geschöpfe Gottes sah, denen man sich anzunehmen habe. Mit seinem 1857 erschienenen „Noth- und Hülferuf für die Verlassensten unter den Elenden an die deutsche Nation“ sorgte er für großes Aufsehen und in der Folge entstehen Anstalten, die sich speziell der Fürsorge für geistig beeinträchtige Menschen widmeten. In seiner öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung mit Vertretern der defizitären und moralisierenden Sichtweise kommt es u. a. auch zum Disput mit Alexander Haindorf und Heinrich Damerow (1798–1866). Letzterer bezeichnete „Blödsinnige“ als „seelenlose Geschöpfe“ und ordnete sie damit zwar nicht den „Thieren“ unter, trug so aber doch zur Vorstellung von Untherapierbarkeit bei (Thoma 2004, 91 f.).

      Diesem Gedanken widersprachen dann nicht zuletzt einige der auch als Anstaltsgründer aktiven Personen, so u. a. Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899), der die Alsterdorfer Anstalten in Hamburg gründete, oder auch Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) mit seiner Anstalt für Epileptiker in Bethel. Überhaupt wuchs das Interesse an den „Blöd- und Schwachsinnigen“ vor allem, weil politisch aktive und pädagogisch interessierte Personen sich für diese Personengruppe einsetzten, ihr eine spezielle Fürsorge zukommen lassen wollten und weil sich, wie Blasius (1980, 22 ff.) herausstellt, die entstehende bürgerliche Gesellschaft ihrer Prinzipien von Freiheit und Menschenwürde bewusster wurde und diese auch den Menschen mit Beeinträchtigungen nicht länger vorenthalten wollte.

      Aus den Armen- und Arbeitshäusern wurden daher nach und nach Krankenheilanstalten, Heil- und Pflegeanstalten bzw. Irrenanstalten. Allerdings lässt sich bis in die 1990er Jahre eine gemeinsame Unterbringung von psychisch kranken Menschen und Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen in deutschen Landeskrankenhäusern feststellen.

      Die Pädagogik wird erst im 18. Jahrhundert als eigenständige Disziplin entdeckt, so widmet sich z. B. der Philosoph Immanuel Kant 1777 in seinen Vorlesungen zur Pädagogik das erste Mal dem erzieherischen Wirken. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts differenzieren sich die Sozialpädagogik (Johann Heinrich Pestalozzis (1764–1827) Umgang mit geistig beeinträchtigten Kindern: Fornefeld 2013, 33 f.) sowie die Heilpädagogik aus. Johann Georgens (1823–1886) und Heinrich Deinhart (1821–1880) legten mit ihrem Lehrbuch von 1861 „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten“ den Grundstein einer Heilpädagogik, die sich der bislang vernachlässigten und erst durch die diversen Anstaltsgründungen zunehmend berücksichtigten Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen, Jugendlichen und Erwachsenen annahm. Sie selbst gründeten 1856 die „Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana für Geistes- und Körperschwache Kinder“ in der Nähe von Wien. Allerdings gelangen auch Georgens und Deinhardt in ihrem moralischen Urteil zu dem Ergebnis, dass „Idiotismus […] eine tiefere Entartung […] mit dem Verlust der Menschlichkeit, d. h. dessen, was den Menschen zum Menschen macht“ (Hauss 1989, 62), sei, obwohl sie andererseits gerade eine Zuwendung zu den Betroffenen propagierten.

      Besonders die schulische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen wurde in der Folge von der Sonderpädagogik übernommen. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden dazu in Deutschland Erziehungs- und Bildungseinrichtungen mit einem besonderen, auf Kinder mit Lernschwierigkeiten zugeschnittenen Programm und z. T. auch eine Aussonderung aus den Heilanstalten mit Schulen in Pflegeabteilungen und sogenannte Bewahr-Anstalten (Störmer 2006).

      Die entstandenen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen unternahmen erste pädagogische Versuche der Erziehung und Bildung von Kindern mit einer geistigen Beeinträchtigung oder einer Beeinträchtigung der Sinne. Der Arzt und Leiter der Pariser „Idiotenschule“, Edouard Séguin (1812–1880), entwickelte zum Beispiel das „Konzept der ‚physiologischen Erziehung‘, als Sinnes- und Funktionsschulung, weiter“ (Fornefeld 2013, 34) und begründete damit in gewisser Weise heutige heilpädagogische Förderkonzepte, wie z. B. das der sensorischen Integration. Auch wuchs das Interesse, betroffene Kinder aus den Heilanstalten zu nehmen und ihnen ein gewisses Maß an Bildung zukommen zu lassen (Störmer 2006).

      Obwohl durchaus ein reformerischer Bildungsoptimismus vorherrschte, wurden bereits hier durch das Differenzkriterium „bildungsunfähig/bildungsfähig“ die später arbeitsfähigen von den auf Dauer nicht arbeitsfähigen Kindern und Jugendlichen getrennt. Für Letztere blieb in der Folge meist nur die Arbeit in der Anstalt übrig, die zwar zu keiner Verselbstständigung, aber doch zu einer Beschäftigung führte, was dann seit Ende des 19. Jahrhunderts zu arbeitspädagogischen Abteilungen und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Entwicklung der Ergotherapie und den Werkstätten für behinderte Menschen führte.

      Opp (2005a) stellt für die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik ein weiteres Differenzkriterium heraus, indem er die „Sprachfähigkeit“ des Menschen als einen Unterscheidungspunkt zu den Tieren insbesondere im Zuge der Aufklärung betont und zeigt, dass dies auch den Erziehungsoptimismus einiger Pioniere der Erziehung von damals sogenannten „schwachsinnigen Kindern“ prägte. Wo Kinder noch über ein Restvermögen verfügten, sich über Sprache zu verständigen, wurden sie auch schulisch gefördert, wie es etwa der Erzieher des Wolfskindes „Viktor“, Jean Itard (1774–1838), und sein Schüler Eduard Séguin (1812–1880) in ihrem Erziehungs- und Bildungsprogramm vorsahen.

      Interessant ist an dieser Stelle, dass zunächst Sprachfähigkeit als Ausdruck von Bildungsfähigkeit angesehen wird und sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam ein Verständnis herausbildet, dass auch bei nonverbaler Kommunikation eine Bildungsmöglichkeit gegeben ist bzw. grundsätzlich eine Bildsamkeit, auch bei schwereren Beeinträchtigungen mit z. T. sehr eingeschränkter Mitteilungsmöglichkeit, vorhanden ist.

      In der Weimarer Republik haben die medizinisch geprägten Anstalten und die pädagogisch geprägten Schulen weiter Bestand, lediglich für den Bereich der körperlich beeinträchtigten Menschen entwickelt sich mit dem rehabilitativen Ansatz eine neue Versorgungsstruktur (Hausdörfer-Reinert 2005). Bereits 1906 hatte der Arzt Konrad Biesalski (1868–1930) erstmals Erhebungen über die Zahl der verkrüppelten Kinder in Preußen durchgeführt, was zu einer Diskussion über die Notwendigkeit der öffentlichen Fürsorge für diesen Personenkreis und zur Gründung der „Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge“ (heute: Deutsche Vereinigung für Rehabilitation) führte. Durch die „Kriegsbeschädigtenfürsorge“ wurde dann, letztlich durch die große Zahl der im Ersten Weltkrieg verwundeten Soldaten, die Körperbehindertenrehabilitation befördert und schließlich durch den Erlass des „Preußischen Gesetzes betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge“ vom 6. 5. 1920, für die „unbemittelten“ Krüppel unter 18 Jahren als öffentliche Fürsorge anerkannt. In Deutschland gab es 1906 schon 27 Anstalten und 1927 bereits 78 Anstalten.

      In den 1920er Jahren begannen sich dann eugenische Vorstellungen durchzusetzen, von denen die wohl bekannteste und erschreckendste die Arbeit des Strafrechtlers Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche ist. Sie prägten in ihrer Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ von 1920 den Begriff der „Ballastexistenzen“ und bereiteten die Euthanasie der Nationalsozialisten ideell vor. Diese setzen sie unter anderem mithilfe des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 und dem beispiellosen Verbrechen gegen Menschen mit Beeinträchtigungen um, durch das 300. 000 bis 400. 000 von ihnen zwangssterilisiert, ca. 5. 000 Kinder und weitere 70. 000 Erwachsene ermordet wurden (Dörner 2006, 26; Klee 1983).

      Die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist dann vom (Wieder-)Aufbau einer humaneren Behandlung, Pädagogik und Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen geprägt (zur Entwicklung in der DDR siehe Häßler/Häßler 2005, 84 ff. und Theunissen 2006b).

      Lindmeier/Lindmeier (2006) beschreiben für die Sonderpädagogik drei Phasen: In den 1950er Jahren dominierte vor allem der Aufbau von Schulen für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Beeinträchtigung, die zunächst Hilfsschulen und später Sonderschulen genannt wurden. Auch die Reformulierung des Familienbegriffs und ihre Entlastung vom ideologischen Ballast des NS-Regimes schaffte ein neues Klima der Förderung von Familien mit Kindern mit einer Beeinträchtigung, wenn auch zunächst sehr verhalten. 1958 kam es dann jedoch auf Initiative des Beauftragten für „Displaced Persons“ der Vereinten