Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. Dieter Röh

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Название Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
Автор произведения Dieter Röh
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348765



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und Fachleute anschlossen und der in der weiteren Zeit als „Lebenshilfe“ zu einem der bedeutendsten Akteure in der Behindertenhilfe und schließlich auch zu einem bundesweit aktiven Träger von Einrichtungen werden wird.

      In den 1970er Jahren entwickelten sich zunehmend integrative Ansätze, zunächst im Schulbereich und später auch bezogen auf Wohneinrichtungen und Arbeitsbereiche. Mit der Eingliederungshilfe im BSHG (1961), dem Schwerbehindertengesetz (1974), dem Rehabilitationsangleichungsgesetz (1974), der Werkstättenverordnung (1980) und dem Neunten Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) von 2001 entstehen wichtige Gesetze, die diese Entwicklung befördern. Innerhalb der allgemeinen Selbsthilfebewegung der 1980er entsteht die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Seit den 1990ern werden dann zunehmend Modelle der Integration und der Inklusion diskutiert und praktiziert (Kap. 3).

      Übungen zu Kap. 2

      1. Zu welcher Zeit und warum wurden die früher gemeinsam internierten Personengruppen der psychisch kranken bzw. der Menschen mit einer Beeinträchtigung von anderen Personengruppen in den Armen- und Arbeitshäusern getrennt?

      2. Diskussions-/ Reflexionsfrage: Wie stark war der Einfluss der veränderten Produktionsweise des Kapitalismus auf den professionellen Umgang mit Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung und psychisch kranken Menschen?

      3. Diskussions-/Reflexionsfrage: Beschäftigen Sie sich mit der Euthanasie der NS-Zeit, insb. mit der sog. T4-Aktion und finden Sie Details über die Verbrechen an Menschen mit einer körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigung heraus. Gibt es Kontinuitäten zur heutigen Zeit und dem Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen und wenn ja, welche?

      In diesem Abschnitt wird die Soziale Arbeit wissenschaftstheoretisch als eine Querschnittswissenschaft verstanden, die zwischen einer reinen sozial- oder einer reinen geisteswissenschaftlichen Orientierung verortet werden kann. Sozialarbeitswissenschaft ist eine eigenständige Fachwissenschaft des Sozialen. Man spricht jedoch besser von einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit, da dies sozialarbeiterische und sozialpädagogische Herkünfte und Ansätze vereint.

      Für die Frage nach einer professionellen wie disziplinären Verortung Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe scheint zunächst der Rückgriff auf wissenschaftstheoretische Erörterungen nachrangig.

      Jedoch kommt keine Wissenschaft ohne eine solche Klärung des Vorverständnisses allen forschenden und praktischen Handelns aus, will sie sich ihrer Stellung und ihres Wissensbereiches innerhalb der Wissenschaftslandschaft bewusst werden. Spätestens seit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert stellt sich für jede Fachwissenschaft, und somit auch für die Sozialarbeitswissenschaft bzw. Wissenschaft der Sozialen Arbeit (vgl. zur Unterscheidung Erath/Balkow 2016, 157 ff.), die Frage nach ihren metatheoretischen Grundlagen.

      Die Soziale Arbeit als noch junge Fachwissenschaft, deren Existenz erst 2001 in Deutschland durch die Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz anerkannt wurde, benötigt noch viel mehr ein solches Vorverständnis, um den daraus abzuleitenden Gegenstand zu bestimmen.

      Die Fragen, die dabei gestellt werden müssen, sind ebenso Fragen des Erkennens selbst als auch der Organisation dieser Erkenntnis innerhalb einer Wissensgesellschaft. Erkennen als Fähigkeit, sich der Wahrnehmung der Welt bewusst zu werden, stellt allerdings für die Soziale Arbeit nur einen Zugang zur Wirklichkeit dar. Zugleich ist sie eine Handlungswissenschaft, deren Professionalität darin besteht, sich auf gesellschaftlich und professionell deklarierte Aufträge zu konzentrieren, die sie dann mit einer möglichst hohen Fachlichkeit ausführt. Gleichzeitig überschneidet sich das berufliche Helfen als „inszenierte Solidarität“ (Rauschenbach 1994, 231 ff.) mit der ontologischen Eigenart des Menschen, anderen Menschen zu helfen. Inszenierte Solidarität ergänzt somit in der Moderne die natürliche Solidarität der kleinen Sozialverbünde von Familie, Dorf oder Zunft, wie sie in der Vormoderne beherrschend waren. Heute würden wir sagen, dass Soziale Arbeit als professionelles Tun von sozialer Arbeit als (auch ehrenamtliches) Helfen unterschieden werden muss. Über den Gegenstand und die Funktion wird in Kapitel 2.3 ausführlicher zu sprechen sein.

      Wissenschaftstheoretisch spricht vieles dafür, Soziale Arbeit als interdisziplinäre Wissenschaft (Erath / Balkow 2016, 164) zu verorten. Ordnet man sie den Sozialwissenschaften zu (Engelke et al. 2016, 45), so gehört sie zur angewandten Sozialwissenschaft und wird damit als Handlungswissenschaft verstanden (Birgmeier 2014; Röh 2013; Birgmeier / Mührel 2011; Staub-Bernasconi 2007). Die sozialwissenschaftliche Seite der Sozialen Arbeit wird später die Grundlage für die Darstellung der Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen (Kap. 3.3) sein und die handlungswissenschaftliche Seite die Grundlage für die professionelle Bestimmung der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe (Kap. 4). In der Tat spricht einiges dafür, diesen Handlungsbezug als eine Variante der wissenschaftslogischen Verortung Sozialer Arbeit zu begreifen, wenngleich gegen die „Angewandtheit“ auch Vorbehalte bestehen (Erath/Balkow 2016, 163). Eine andere mögliche Variante besteht darin, sie (wieder) näher an geisteswissenschaftliche Denklinien heranzuführen und damit dem „Verstehen“ eine ebenso gewichtige Bedeutung beizumessen wie dem „Handeln“ (Röh 2008). Handlungstheoretisch ausformuliert finden wir hierzu gute Ansätze bei Mührel (2005), der „Verstehen“ als etwas Ontologisches, ein stetiges „Erleiden und eine Widerfahrnis“ (84) begreift und gleichzeitig „Verstehen“ als eine notwendige Form des Zugangs zum anderen und damit auch zum Hilfesuchenden konzipiert – ohne indessen in eine reine Methodik, sprich Sozialtechnologie, zu verfallen. Gerade in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung, bei denen mitunter Veränderungen durch pädagogische Einflussnahme seltener herbeigeführt werden können, weil Lernprozesse viel langsamer verlaufen, bedarf es einer gekonnten verstehenden Haltung, wie sie sich beispielsweise mithilfe der Syndromanalyse erreichen lässt (Zimpel 1994, 2010).

      Mit Marquard (2003) könnte man folgende Geschichtentypen für die geisteswissenschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit heranziehen: Sensibilisierungs-, Orientierungs- und Bewahrungsgeschichten liefern uns ein handlungstheoretisches Programm, entlang dessen wir Soziale Arbeit sowohl in ihrer sensibilisierenden, orientierenden als auch bewahrenden Funktion verstehen können. Für die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe ließe sich diese in analoger Form wie folgt beschreiben:

      ■ Sensibilisierungsgeschichten stünden hier für Strategien und Wege, die versuchen, die besondere Lebenssituation, die besondere Verletzlichkeit und den Anspruch auf eine menschenwürdige Begleitung und Assistenz von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu verdeutlichen, sie zu benennen, der Öffentlichkeit zu präsentieren, und daraus Ansprüche auf einen humanen Umgang mit ihnen abzuleiten.

      ■ Orientierungsgeschichten würden uns weiterhin dabei helfen, die richtigen ethischen Entscheidungen in der Behindertenhilfe zu treffen, indem die Orientierungen offengelegt, diskutiert und damit fundiert werden, an denen wir alltäglich, professionell, aber auch politisch Handlungen bemessen können.

      ■ Bewahrungsgeschichten würden schließlich dazu dienen können, die moderne, vor allem im kapitalistischen Produktionssystem zu verzeichnende Dynamisierung des Alltagslebens durch die quasi kompensatorische Rückbesinnung auf weitere Werte (Muße, Rücksicht, Solidarität) abzufedern bzw. zu bremsen.

      Wie man also sieht, kann durch das Marquard’sche Geschichtenerzählen, aber auch Geschichtenerleben, also die biografische wie alltägliche Rekonstruktion der lebensweltlichen Geschehnisse, eine Orientierung erreicht werden, die weit über die wissenschaftliche und professionelle Expertise hinausgeht.

      Soziale Arbeit in der Tradition von Sozialpädagogik hat sich dabei schon immer einer gewissen Nähe zu geisteswissenschaftlichen Positionsbestimmungen erfreut, die sie fruchtbar vom naturwissenschaftlichen Weltverständnis abzugrenzen half (Winkler 1997).

      Meines Erachtens sollte sowohl der sozialpädagogische,