Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. Dieter Röh

Читать онлайн.
Название Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
Автор произведения Dieter Röh
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348765



Скачать книгу

und Armenhäusern, vereinzelt auch in die seit dem 16. / 17. Jahrhundert entstehenden Zucht- und Arbeitshäusern, interniert wurden. Daher sollte auch vor einer allzu romantischen Vorstellung von Integration in die Familie bzw. das Dorf gewarnt werden. Vielmehr waren Stigmatisierung und Kontaktvermeidung eher die Regel als die Ausnahme – und sind es mit Blick auf die Lage in anderen Ländern (WHO 2011) und in gewisser, wenn auch abgeschwächter Form auch in Deutschland noch immer. So berichtet Thoma (2004, 84) davon, dass bis ins 19. Jahrhundert schwangere Frauen davor gewarnt wurden, behinderte Menschen anzusehen, da sich dies schlecht auf ihr Kind auswirken würde. Und in der Republik Südafrika müssen noch heute weite Teile der Bevölkerung darüber aufgeklärt werden, dass Epilepsie nicht ansteckend oder gefährlich ist und auch kein böser Geist die Betroffenen beherrscht (vgl. die Arbeit von epilepsy.org.za).

      Beginnend mit den ersten Bemühungen europäischer Städte, im ausgehenden Mittelalter Armen- und Bettelordnungen zu erlassen, die im Zusammenhang mit ihrem neuen Selbstbewusstsein als Handwerks- und Handelszentren und der wirtschaftlichen Entwicklung stehen, wird der Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen zunehmend davon bestimmt, sie aus der Gesellschaftsordnung auszugliedern und ihre Fürsorge, Kontrolle bzw. Verwahrung den o.g. Institutionen zu überlassen (Fornefeld 2013, 32 ff.). Verbunden mit einem sich langsam etablierenden städtischen Verhaltenskodex, der zunehmenden Verwertungslogik menschlicher Arbeitskraft, aber auch der wachsenden philanthropischen Einstellung des Bürgertums, gerät Schwäche und Abweichung zu einem Makel, der in dieser neuen Ordnung als zunehmend störend empfunden und damit unsichtbar gemacht, aber gleichzeitig auch „fürsorgerisch“ behandelt werden sollte. Waren bis dato vornehmlich Kirchen und Klöster sowie Lehnsherren für die Almosenvergabe zuständig, so übernehmen nun zunehmend die sich emanzipierenden Städte und das Bürgertum die Fürsorge von Kranken und Schwachen. Bereits die ersten städtischen Armenordnungen, so z. B. die Nürnberger Armenordnung von 1522, kennen spezielle Bestimmungen, wie mit Kranken umgegangen werden soll (Sachße/Tennstedt 1980, 63 ff.). Zudem waren Menschen mit Beeinträchtigungen wie fast keine andere Gruppe dermaßen zentral auf das Betteln angewiesen, dass sie auch bald besondere Berücksichtigung erfuhren: So bestimmt die eben genannte Ordnung, dass wenn bei

      „Bettlern und hausarmen Leuten, die mit dem Fieber oder anderen Krankheiten behaftet sind, […], irgendwelche Medizin benötigt würde, diese solches einem der eingesetzten Knechte bekannt geben. Wenn dann dieser Knecht nach Augenschein das Bedürfnis anerkennt, soll er dem Kranken oder Bedürftigen das Nötige auf Kosten des Almosens aus den Nürnberger Apotheken verschaffen“ (Sachße/Tennstedt 1980, 71).

      Auch wenn nicht ganz sicher ist, ob auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen unter diese Regelung fielen, ist doch anzunehmen, dass diese schon aus Gründen der christlichen Nächstenliebe mit Almosen unterstützt wurden.

      Daneben wird jedoch jede Art von Schwäche als störender Kontrast zum zunehmend sich etablierenden, gesellschaftlichen Typus des ‚homo faber‘ gesehen und immer stärker missbilligt. Die neue gesellschaftliche Anforderung, wie sie von den sich entwickelnden Produktionsverhältnissen geschaffen wurde, wird von Sachße / Tennstedt (1980, 37) wie folgt treffend beschrieben:

      „Wenn der Lebenszusammenhang und damit die Persönlichkeitsstruktur des mittelalterlichen Menschen in einer vorwiegend agrarisch produzierenden, traditionalen Gesellschaft von dem natürlichen Rhythmus des Jahres- und Tagesverlaufes, von dem Ablauf und der Dauer konkreter Verrichtungen und der Art und Weise konkret-sinnlicher Bedürfnisse bestimmt war, dann produzieren die Gesetzmäßigkeiten des Marktes einen vollständig neuen Lebensrhythmus. Dieser erfordert Disziplin, Zeitökonomie und Abstraktionsvermögen; das Vermögen, kurzfristige Bedürfnisse zugunsten längerfristig zu erreichender Ziele zurückzustellen, im voraus zu planen; abstrakte Tüchtigkeit und Erwerbsstreben. “

      Es ist verständlich, dass insbesondere Menschen mit Beeinträchtigungen dieser gleichförmigen Anforderung nicht entsprechen konnten und deshalb auch ausgeschlossen wurden.

      Die Neuformierung der Armenpflege durchzieht auch die Reformbemühungen im Absolutismus und der Aufklärung, allerdings mit einem entscheidenden Zusatz, nämlich der zunehmenden Nutzung von sogenannten Armen- und Arbeitshäusern, mit denen, neben der gewünschten ordnungs- und polizeirechtlichen Intention, auch arbeitspädagogische Motive verfolgt wurden.

      So verknüpfte sich spätestens mit dem calvinistisch-lutherischen Arbeitsideal die Vorstellung von Armut und Arbeit immer stärker mit dem Ziel der „Erziehung der Armen durch Arbeit“. Die Fürsorge wurde damit gleichzeitig zu einer moralischen und funktional gedachten Sanktions- und Interventionsform, die wiederum Menschen mit Beeinträchtigungen auf besondere Weise ausschloss. Sind schon die erzieherischen Motive (und deren Erfolg) für „normale“ Arme mehr als zweifelhaft und als menschenunwürdig zu betrachten, so schlugen sie hinsichtlich der in diesem Sinne nicht zur Arbeit „erziehbaren“ Menschen völlig fehl.

      Lebten in dem 1656 in Paris ins Leben gerufenen „hôpital général“, das als Prototyp der später von Goffman (1973) beschriebenen „totalen Institutionen“ gelten kann, noch die unterschiedlichsten Insassen (Bettler, Waisen, Kinder, Alte, Straffällige, Kranke, „Behinderte“), so differenzieren sich diese Häuser im Laufe des 19. Jahrhunderts in Krankenheil- und Pflegeanstalten, Gefängnisse und vergleichbare Einrichtungen aus (Fornefeld 2013, 28 ff.; Häßler/Häßler 2005, 50 ff.). Dies hatte auch Konsequenzen für die medizinische, pflegerische, fürsorgerische und letztlich auch pädagogische Tätigkeit:

      „Bis in die zweite Hälfte des 18. Jhs. schenkte man – von Ausnahmen abgesehen – behinderten Menschen in ihrer sozialen, gesundheitlichen und auch erzieherischen Not keine besondere Aufmerksamkeit. Nur sehr langsam entwickelte sich, angestoßen durch das Gedankengut der Aufklärung, ein spezifisches Interesse für behinderte Menschen, die sie aus der großen Masse der Armen und Kranken heraustreten ließ. Nicht nur die verstärkte Suche nach naturwissenschaftlich-medizinischen Erklärungen von Krankheiten führte zu einer intensiveren Erforschung der Ursachen von Behinderungen; auch die Pädagogik wandte sich – wenn auch nur am Rande – den zunächst für bildungsunfähig gehaltenen Blinden, Taubstummen und Schwachsinnigen zu“ (Thoma 2004, 85).

      Andererseits geht mit der Pädagogik und der Entstehung der modernen Medizin, vor allem in der Psychiatrie, eine neue Form des Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigungen einher, da deren Krankheiten und Behinderungen nicht länger als „Gottesstrafe“ oder „Besessenheit“, sondern vielmehr als Ausdruck medizinisch zu verstehender Ursachen gesehen wurden. So etablierte etwa Wilhelm Griesinger (1817–1868) das Verständnis von Geistes- als Gehirnkrankheiten und öffnete damit das Feld für das medizinische Verständnis von geistigen Beeinträchtigungen und psychischen Krankheiten. Obwohl das medizinische Menschenbild der damaligen wie der heutigen Zeit dem sozialen in vielem konträr entgegensteht, gehen die beiden Disziplinen doch einige „Kooperationen“ ein und entwickeln dadurch auch Gemeinsamkeiten, wie sie etwa später in der bis heute von einer medizinischen Sichtweise geprägten Professionalität der Heilerziehung zum Ausdruck kommt (Buchkremer 1990, 59). Mit der Ausdifferenzierung und Entstehung der psychiatrischen Anstalten des 19. Jahrhunderts geht dann auch langsam die Erkenntnis einher, dass diagnostische und „therapeutische“ Unterscheidungen notwendig seien. So kategorisiert der schweizerische Arzt Johann Guggenbühl (1816–1862) „Kretine und Blödsinnige“ anders als „Idioten“, denn bei Ersten sei ein – seiner Ansicht nach letztlich behandelbares –„unbekanntes Agens“ am Werke, das „entweder schon vor der Geburt oder später die Ernährung von Gehirn und Rückenmark“ stört, und bei Letzteren sei „die Seele in ihrer irdischen Erscheinung erloschen“ (Hauss 1989, 30).

      Der Arzt Alexander Haindorf (1782–1862) teilte in seinem „Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemütskrankheiten“ aus dem Jahr 1811 die von ihm vorgefundenen klinischen Bilder der Betroffenen in drei Stufen ein, wovon die leichteste von ihm bereits als „schwerfälliges Lernen“ beschrieben wird und damit eine Nähe zur im Jahr 2017 gebräuchlichen Definition von Lernbeeinträchtigung in Abgrenzung zur stärkeren geistigen Beeinträchtigung aufweist (Hauss 1989). Er kommt damit Wilhelm Griesinger zuvor, der erst 1845 sein Lehrbuch „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ herausbrachte und auch dort erst in der dritten Auflage bzw. durch eine post mortem erfolgte Erweiterung die geistige