Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. Dieter Röh

Читать онлайн.
Название Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
Автор произведения Dieter Röh
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348765



Скачать книгу

für Soziale Arbeit e. V. 2014), sollen der Sozialen Arbeit als Leitlinie für ein angemessenes ethisches Handeln dienen.

      Die bereits in den Definitions- und Ethikdokumenten der IFSW und der IASSW enthaltenen Implikationen hinsichtlich einer besonderen Berücksichtigung der Menschenrechtsperspektive haben dazu geführt, dass bereits 1992 vom „Center of Human Rights“ der Vereinten Nationen, von der IFSW und von der IASSW die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession ausgerufen wurde. Die auf Grundlage einer bedürfnistheoretischen Begründung erfolgende Verortung Sozialer Arbeit bestimmt daher ihren ethischen Auftrag in der Wahrung der Menschenrechte als der menschlichen Natur eigene Rechte, ohne die

      „wir als menschliche Wesen nicht existieren können. Die Menschenrechte und die grundlegenden Freiheiten erlauben uns, unsere menschlichen Fähigkeiten, unsere Intelligenz, unsere Begabungen und unser moralisches Bewusstsein voll zu entwickeln und zu gebrauchen und unsere geistigen und sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen. Sie gründen im zunehmenden Verlangen der Menschheit nach einem Leben, in dem die unveräußerliche Würde und der Wert jedes einzelnen Menschen Anerkennung und Schutz findet“ (Vereinte Nationen 1987, zitiert nach UN-Manual 2002, 5).

      Seitdem wurde die Bestimmung Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession immer wieder diskutiert (Mührel/Birgmeier 2013). Insbesondere Silvia Staub-Bernasconi hat diesen Ansatz aufgenommen und in verschiedenen Publikationen (2016) expliziert. Dabei kommt deutlich zum Ausdruck, dass sich das damit verbundene normativ-ethische Grundverständnis mittels einer Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit entlang von Bedürfniskategorien für das professionelle Handeln von SozialarbeiterInnen erschließen lässt (Kap. 4.2.2).

      Innerhalb dieses Konzepts werden Menschen als wissens- und handlungsfähige Biosysteme erfasst, die durch biopsychosozial zu verstehende Bedürfnisse bestimmbar sind. Damit steht die Systemtheorie der Zürcher Schule in der Tradition früherer Überlegungen innerhalb der Sozialen Arbeit, von denen die Bedürfnistheorie Ilse Arlts die bekannteste sein dürfte. Arlt verstand Bedürfnisse ebenfalls als eine conditio humana und schuf für sie den Begriff „Gedeihenserfordernisse“, deren Befriedigung die notwendige Bedingung für ein Leben bedeutet, welches sich durch die Fähigkeit zu einem ‚schöpferischen Konsum‘ auszeichnet (Arlt 1958, 60, 74).

      Wo diese Bedürfnisse, deren normative Ausformung in den Menschenrechten zu sehen ist, nicht befriedigt werden, entstehen soziale Probleme. Im Zuge der Anwendung der Formel „Soziale Arbeit als eine Menschenrechtsprofession“, von Staub-Bernasconi (2003), gewinnt Soziale Arbeit zusätzlich zum doppelten Mandat (Böhnisch/Lösch 1973) ein weiteres Mandat, das als eigenständiger, von der Gesellschaft und der Klientel unabhängiger Auftrag der Sozialen Arbeit aufgefasst wird (Tripelmandat). Diese Selbstmandatierung beruht im Wesentlichen auf der Verteidigung und Wahrung der Menschenrechte in den je spezifischen Handlungskontexten der Sozialen Arbeit und einer wissenschaftlichen Basis (Ife 2012).

ArtikelÜberschrift
9Zugänglichkeit
10Recht auf Leben
11Gefahrensituationen und humanitäre Notlagen
12Gleiche Anerkennung vor dem Recht
13Zugang zur Justiz
14Freiheit und Sicherheit der Person
15Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
16Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch
17Schutz der Unversehrtheit der Person
18Freizügigkeit und Staatsangehörigkeit
19Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft
20Persönliche Mobilität
21Recht der freien Meinungsäußerung, Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen
22Achtung der Privatsphäre
23Achtung der Wohnung und der Familie
24Bildung
25Gesundheit
26Habilitation und Rehabilitation
27Arbeit und Beschäftigung
28Angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz
29Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben
30Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

      Zuletzt haben die Vereinten Nationen mit dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, das 2006 von der Generalversammlung verabschiedet und von der Bundesrepublik Deutschland 2008 ratifiziert wurde, ein menschenrechtliches Dokument und Instrument in die Welt gesetzt, das den Menschenrechtsgedanken für die spezifischen Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen durchdekliniert (Tab. 1). Es handelt sich nicht um ein Dokument „anderer Menschenrechte“, sondern nur um eine Spezifizierung. Sie nennt Menschenrechte in verschiedensten Lebensbereichen.

      In der Präambel wird daher festgehalten, dass dies in der Überzeugung geschieht,

      „dass ein umfassendes und in sich geschlossenes internationales Übereinkommen zur Förderung und zum Schutz der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den entwickelten Ländern einen maßgeblichen Beitrag zur Beseitigung der tiefgreifenden sozialen Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen leisten und ihre Teilhabe am bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben auf der Grundlage der Chancengleichheit fördern wird“ (Deutscher Bundestag 2009).

      Die Behindertenrechtskonvention hat u. a. zu einer neuen Legaldefinition von „Behinderung“ geführt (Kap. 3.1.4).

      Wie bereits anhand der Betrachtung der Definition Sozialer Arbeit durch die IFSW deutlich wurde, fußt diese u. a. auch auf der Idee der sozialen Gerechtigkeit. Doch was ist gerecht und wer bestimmt darüber?

      Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns der Gerechtigkeitstheorie als einer Abteilung der praktischen Philosophie zuwenden. Die amerikanische Ethikerin Martha Nussbaum beschreibt in ihrer Theorie des guten Lebens solch einen Gerechtigkeitsansatz. Nussbaum baut ihre Ethik auf der aristotelischen Philosophie des guten Lebens auf und gelangt damit zu einer Konzeption der Lebensführung, der Ähnlichkeiten zum Menschenrechtsdiskurs aufweist (Nussbaum 2010, 115 ff. und Röh 2013, 157). Neben der darin enthaltenen Bedürfnistheorie entfaltet sie einen „Fähigkeitenansatz“, der sich gleichzeitig als bildungsund sozialpolitisches Programm verstehen lässt. Dies geschieht bei Nussbaum in Abgrenzung zu anderen Gerechtigkeitsvorstellungen, wie etwa dem Utilitarismus oder auch der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, der mithilfe eines hypothetischen Gedankenexperimentes zu beweisen versuchte, dass Ungleichheit in dem Maße erträglich sei, wie alle Mitglieder einer Gesellschaft dieser durch freie Wahl zustimmen würden, auch wenn sie für einige von ihnen Nachteile mit sich bringe. Aufgewogen sollten diese Nachteile laut Rawls (1975, 336; 2006, 78) durch zwei Bedingungen:

      a) Die Prinzipien müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bieten, und

      b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.

      Für Rawls stellte eine konstitutionelle „Ur-Gemeinschaft“, an der diejenigen beteiligt sind, die zu dieser Gemeinschaft gehören und die Merkmale „frei“ und „gleich“ aufweisen, eine Grundbedingung dar. In der Situation der „Ur-Wahl“ von Gerechtigkeitsprinzipien sollen sie jedoch hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ quasi ihre jetzige soziale Position (inkl. ihrer eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten) vergessen. Nussbaum bezieht hier eine andere Position als Rawls, wenn sie gerade denjenigen, die mehr brauchen (weil sie qua Natur oder gesellschaftlichem Status weniger mitbringen), auch mehr geben will. Explizit erwähnt sie hier körperlich oder geistig / psychisch beeinträchtigte Menschen (Nussbaum 2010, 138 ff.), die ein „Mehr“ oder ein „Anderes“ an Gütern benötigen, um das gleiche Maß an Teilhabe zu erreichen. Dieses „Mehr an Abhängigkeit“ hat etwa Hahn (1999) als wesentlich zur