Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. Dieter Röh

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Название Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
Автор произведения Dieter Röh
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348765



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Leben ohne fortwährende Begleitung oder Betreuung zu leben.

      2. Menschen, die aufgrund einer geistigen, körperlichen oder sogar mehrfachen Beeinträchtigung (noch) nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Renten- oder Rehabilitationsanspruch erwerben konnten, sind häufig auf die Ersatzsysteme der Eingliederungshilfe angewiesen.

      3. Traditionell waren und sind Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Beeinträchtigung von fremder Hilfe abhängig. Zukünftig soll sich diese Situation durch Selbstbestimmung und Gleichbehandlung in Richtung einer stärkeren Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und in verschiedenen Lebensbereichen verändern.

      4. Auf dem Weg dorthin benötigen sie eine kompetente, professionelle Unterstützung, die ihre Rechte auf Selbstbestimmung ebenso achtet wie ihre Entwicklung und Teilhabe fördert.

      Dieses Buch soll als Lehr- und Studienbuch für die Ausbildung von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen dienen und enthält daher neben theoretischen Erörterungen auch praxisrelevante Beispiele sowie Aufgaben und Lösungen für bestimmte Fragestellungen. Letztere sind auf der Website des Verlags zu finden.

      Dabei wird gezeigt, dass die Soziale Arbeit sich in profunder Weise von anderen verwandten Professionen, wie etwa der Heil- oder Sonderpädagogik, durch einen eigenen fachwissenschaftlichen Zugang unterscheidet, der als „Expertise für die Zusammenhänge zwischen Individuum und Gesellschaft“ bezeichnet werden kann. Mit dieser Expertise ist ein (handlungs-)theoretisches Modell verbunden, welches eigene Konzepte für die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen vorhält.

      Dieses Modell wird durch das biopsychosoziale Behinderungsmodell der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001; DIMDI 2005), der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), gestützt, welches auf bemerkenswerte Weise eine „ganzheitliche Sicht“ von Krankheit, Behinderung und Partizipation bzw. Teilhabe ermöglicht. Es verbindet medizinische, individual- und sozialpsychologische und schließlich sozialwissenschaftliche Sichtweisen auf Behinderung in einer Art und Weise, die als multidimensionaler Blick der Sozialen Arbeit schon lange bekannt ist, etwa in der sozialökologischen Perspektive des Person-in-Environment-Modells.

      Die vorliegende Publikation will diese Perspektive aufnehmen und in drei Schritten bearbeiten. Zunächst soll die Soziale Arbeit in ihren Grundzügen dargestellt werden. In Kapitel 2 werde ich einleitend einen kurzen Abriss der Geschichte Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe liefern, dann eine wissenschaftstheoretische Verortung der Sozialen Arbeit vornehmen sowie deren Gegenstand und Funktion skizzieren, weiterhin ethisch-moralische Grundlagen beschreiben und schließlich Aussagen zur allgemeinen Methoden- bzw. Handlungstheorie treffen.

      In Kapitel 3 wird die Behindertenhilfe als Handlungsfeld beschrieben, wobei sowohl der Behinderungsbegriff diskutiert als auch sozialethische Grundlagen sowie die Lebenslage und insbesondere die damit verbundenen möglichen sozialen Probleme von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie die professionellen Antworten hierauf dargestellt werden müssen, um daran anschließend einige aktuelle Entwicklungen aufzeigen zu können.

      Schließlich wird beides in Form einer professionellen Bestimmung der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe in Kapitel 4 miteinander verbunden. Dazu werde ich zunächst den Gegenstand und die Funktion der Sozialen Arbeit, danach (handlungs-)theoretische Grundlagen und abschließend eine Auswahl an Konzepten und Arbeitsformen vorstellen.

      Hamburg, im Juni 2017

      Dieter Röh

      2 Grundlagen der Sozialen Arbeit

      2.1 Geschichte der Behindertenhilfe

      Dieser Abschnitt informiert über die gesellschaftliche Entwicklung der Behindertenhilfe von der Armenfürsorge, über die Anstaltsversorgung und die Entstehung erster medizinischer und pädagogischer Ansätze der Rehabilitation, die sich konstituierende Wohlfahrtspflege bis hin zur modernen Sozialpolitik und deren jeweiligen Praxis im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen.

      Dem Problem einer klaren begrifflichen Bestimmung, was Behinderung ist, kann an dieser Stelle noch nicht entsprochen werden (Kap.3.1). Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die folgenden Ausführungen sich auf ein Gesamt aus „fürsorglichen Bemühungen“, ordnungs- und sozialstaatlichen Programmen und ersten Versuchen der Professionalisierung von Behandlung und Versorgung derjenigen Personen mit verschiedensten Beeinträchtigungen konzentrieren werden, seien es geistige, körperliche oder psychische. Auch die später thematisierte Modernisierung des Verständnisses von Behinderung ist dahingehend zu berücksichtigen, dass es sich bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein um eine eher defizitäre, individualistische Auffassung von „Behinderung“ handelte. Gesellschaftlich wie auch vornehmlich medizinisch wurde „Behinderung“ eher individuell ausgedeutet und als Störung oder Problem klassifiziert, was erst heute mittels einer reflektierten ethischen Grundhaltung und der sozialen Perspektive relativiert werden kann.

      So hat sich beispielsweise das Verständnis von geistiger und psychischer Beeinträchtigung im 19. und 20. Jahrhundert verändert. Insbesondere wurde die geistige Beeinträchtigung erst spät von der psychischen Erkrankung abgegrenzt, weshalb damals geläufige und zunächst nicht stigmatisierend genutzte Diagnosen wie „Schwachsinn“, „Blödheit“, „Irrsinn“ oder „Idiotie“ häufig als Synonyme für psychische Abweichungen insgesamt gesehen wurden, einerlei ob es sich um aus heutiger Sicht zu differenzierende Diagnosen von geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen handelte (Hauss 1989; Blasius 1994; Häßler / Häßler 2005).

      Im Allgemeinen kann man festhalten, dass der Gegenstand einer vom „Typischen“ abweichenden Wesensart von Menschen mit Beeinträchtigungen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als eine Domäne der Psychiatrie angesehen wurde, ohne dass die einzelnen Erscheinungsformen differenziert oder andere Verständnisse, etwa psychologische, pädagogische oder sozial- und kulturwissenschaftliche, integriert wurden. Auf institutioneller Seite hielt sich diese Gleichförmigkeit länger als in der medizinischen Wissenschaft, da die Psychiatrie mit ihren kustodialen, institutionellen Strukturen der Heilanstalten, Landeskrankenhäuser, Stadtasyle und Pflegeheime lange Zeit in der Versorgung und „Verwahrung“ dominierte und allerhöchstens innerhalb dieser Anstalten eine Differenzierung vorgenommen wurde.

      Eine vollständige Geschichte der Hilfen für Menschen mit Beeinträchtigungen, gerade aus Sicht der Sozialen Arbeit, muss noch geschrieben werden, wobei gute sozialgeschichtliche Arbeiten, u. a. von Dörner (1995) und Blasius (1980, 1994), vorliegen. Eine Übersicht zur geschichtlichen Entwicklung der Fürsorge für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zur heutigen Rehabilitation bietet Hausdörfer-Reinert (2005) und für die Gruppe der Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen Häßler und Häßler (2005) sowie Fornefeld (2013, 28 ff.).

      Ganz entscheidend vorangebracht wurde die kulturwissenschaftliche und historische Forschung durch die disability studies, einer interdisziplinären Wissenschaft, die – vereinfacht gesagt – in ihren Forschungen ein soziokulturelles Modell von „Behinderung“ favorisiert (Bösl et al. 2010).

      In der Literatur zur Geschichte der Sozialen Arbeit wird, aufgrund der Dominanz anderer Disziplinen und Professionen in diesem Feld, die Behindertenhilfe eher randständig behandelt. Trotzdem ist diese hinsichtlich ihres in den verschiedenen Zeiten gesellschaftlich unterschiedlich definierten Auftrages zur Bearbeitung von sozialen Problemen bzw. Armutsphänomenen immer auch mit Menschen mit Beeinträchtigungen befasst gewesen. Armenfürsorge und Behindertenfürsorge waren daher lange Zeit miteinander verschränkt, da Menschen mit Beeinträchtigungen per se als Arme angesehen und behandelt wurden und erst mit der Ausdifferenzierung der Versorgung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts der eigenständige Beitrag der Sozialen Arbeit ersichtlich wird.

      Da weitgehend Analysen prähistorischer Funde und antiker Überlieferungen fehlen (siehe als Ausnahme Rathmayr 2014, 45 ff.), kann ein erstes Mal etwas fundierter auf die besondere Berücksichtigung und Erwähnung von Menschen mit Beeinträchtigungen im ausgehenden Mittelalter hingewiesen werden: Sie lebten