Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
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Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
Die Leute wurden auf die Dörfer verteilt, bekamen ein Zimmer zugeteilt. Manche wurden freundlich aufgenommen, manche hatten es furchtbar. Das würden wir heute auch nicht gerne wollen, plötzlich fremde Leute ins Haus zu bekommen. Meine Mutter dachte: ›Was soll ich mit den Kindern auf den Dörfern, wo sollen die denn in die Schule gehen?‹ Sie ging zum Superintendenten in Lengerich und bot ihm ihre Hilfe in der Gemeinde an. Während mein Vater im Krieg war, hatte meine Mutter auch schon zu Hause die Gemeindearbeit übernommen. Der Superintendent war froh über das Angebot und gab uns das alte Gemeindehaus. Dort hatten vorher die Russen als Gefangene gelebt. Die Haustür war rausgebrochen, die Fenster waren zum Teil kaputt. Die Ratten umschwirrten das Haus und den Hof, denn dort hatten die Gefangenen die Essensreste vergraben. Die Badewanne war voller Scheiße. Es war ekelhaft. Aber wir hatten unser eigenes Haus!
Ich sagte zu meiner Mutter: »Bringt ihr den Rest in Ordnung, ich kümmere mich um die Badewanne.«
Ich holte Sand aus dem Hof und säuberte damit die dreckige Wanne. So konnten wir an unserem ersten Abend kalt duschen. Der Superintendent organisierte uns Bettgestelle und Strohsäcke. Wir hatten eine Wohnung, die uns gehörte! Mit Bruchmöbeln, aber das war ganz egal. Ich weiß noch wie heute, als ich mit meinem eigenen Bettzeug, das wir mitgebracht hatten, auf dem Strohsack lag, mit kaltem Wasser sauber geduscht, da dachte ich: ›Puh, gut!‹ Ich war so voller Willen, dass wir hier neu anfangen würden. In diesem Alter ist das einfach toll!
Und dann ging das Leben weiter, das ist eine völlig neue Geschichte. Die Hungerzeit fing erst nochmal richtig an. Wir hatten nichts, keinen Garten. Es gab Marken. Was es ohne Marken gab, waren Heringe. Also aßen wir dauernd Hering. Ich konnte nach den Notzeiten lange Zeit keine Heringe mehr essen. Die Leute um uns herum hatten alle Vorräte – ein Land, das im Grunde genommen überhaupt nicht geschädigt war, die hatten alles behalten. Wir hatten immer Hunger. Auf der Rückfahrt von der Schule sagte einmal eine der Bauerstöchter: »Hach, nun hab ich wieder die Brote nicht aufgegessen. Wenn ich nach Hause komme, krieg ich ja nichts als Schimpfe.«
Ich dachte: ›Sollst du es sagen oder sollst du lieber schweigen?‹ Es war ein richtiger Kampf in mir. Und dann sagte ich: »Ach, weißt du Inge, wenn du Ärger kriegst, ich würde sie schon essen, ich hab eigentlich immer Hunger.«
Das war ihr dann aber schon sehr peinlich. Zu Hause erzählte sie es ihrer Mutter und die ließ uns dann zur Vorweihnachtszeit eine Tüte Mehl zukommen, damit meine Mutter was backen konnte.
Es war eine friedliche Flucht, sie war ja organisiert …
Was ich in den letzten Jahren kapiert habe: Diese Angst, dass es wiederkommt. Diese Rechten machen mich fertig! Und das ist auch der Grund, warum ich ohne Schamgefühl in der Öffentlichkeit, wenn irgendjemand neben mir solche blöden Sachen sagt, widerspreche: »Ich verstehe Sie nicht, wie können Sie so reden!«
Früher hätte ich geschwiegen. Aber jetzt nehme ich es ernst. Es ist eine Gefahr.
Von wandelbaren Gerüchen, Hosenbeinen und dicken Kuchenblechen
Mit den Flüchtlingen war es so: Meine Mutter lernte auf der Straße eine Frau kennen. Sie weinte furchtbar. Die Frau erzählte, dass sie und ihre Tochter geflüchtet waren, ihr Mann war im Krieg. Sie hatten nichts zu essen und so einen Hunger. Ihr Kind war zwei Jahre jünger als ich, fünf Jahre alt, und es hatte nichts zum Anziehen. Meine Mutter nahm die Frau mit zu uns nach Hause und gab ihr Sachen von mir, aus denen ich rausgewachsen war. Sie hatte bei meinen Schuhen schon die Spitzen abgeschnitten, weil wir keine Schuhe kriegten.
Ich habe das oft von anderen gehört, auch von meiner Freundin, die geflüchtet ist: Sie bekamen auf dem Land ein Zimmer zugeteilt, das nicht beheizt war. Sie hatten kaum zu essen, und die Kinder mussten immer alle mithelfen. Die da auf dem Land sollten sich was schämen, denn das waren ja Deutsche, die geflüchtet sind.
In der Stadt bei uns in Berlin war es so: Wer eine größere Wohnung hatte, musste Zimmer an Flüchtlinge abgeben. In unserem ganzen Haus wohnten überall in den Wohnungen mehrere Familien. Da hat sich keiner gegen gewehrt, von wegen das will ich nicht! Wissen Sie, das gab es nicht! Die waren hier mitten in der Stadt alle verteilt. Wir waren dann auch so viele Kinder in der Klasse, weil so viele geflüchtet sind. Als wir abgingen, waren wir neun 10. Klassen! So viele Kinder waren wir – 35 in der Klasse! Geht alles!
(Edeltraud H., Jg. 1938)
Ich erinnere mich an die Geschichten der Flüchtlinge aus Ostpreußen, die bei uns im Dorf vorbeikamen. Eine Familie hatte erzählt, dass ihr zweijähriges Kind auf der Flucht erfroren war. Die Kleinen konnten ja nicht trockengelegt werden. Die machte sich nass, und dann fror das ein. Sie hatten keine Wäsche mehr. Man kann sich heute die Kälte von 25 Grad minus auf der Flucht gar nicht vorstellen. Es muss schlimm gewesen sein … Wir mussten nur aus Westpreußen fliehen und konnten noch mit dem Zug fahren.
Ich wundere mich immer, dass darüber so wenig geredet wurde. Oder wie soll ich sagen, ich hatte später im Westen sehr viele Freundinnen, auch eine in Bayern, die es ganz normal fanden, dass wir flüchten mussten. Schließlich musste ja jemand den Krieg bezahlen, und das trifft natürlich immer irgendeinen. Damit war für meine Freundinnen das Thema erledigt. Dass das für jemand, der davon betroffen war, nie erledigt ist, weil ja was fehlt, das haben die, glaube ich, bis heute nicht begriffen. Es ist sehr einschneidend, wenn Sie aus Ihrem Umfeld rausgerissen werden. Egal, ob das nun mit einer schlimmen Flucht verbunden war oder nicht. Wir mussten weg und durften nicht wieder zurückkommen – das ist sehr einschneidend. Wir sind nicht immer mit offenen Armen aufgenommen worden. Meine Freundin aus der Schule durfte mich nicht mit nach Hause bringen, weil ich Flüchtlingskind war. Das war ihr streng verboten. Als ihre Eltern mal verreist waren, hat sie mir heimlich das Haus gezeigt. Ist das nicht ein Ding! Als hätten wir die Krätze gehabt. Das verschweigt man heute auch. Also so gut, wie die Flüchtlinge heute aufgenommen werden, wurden wir nicht aufgenommen. Und wir waren das gleiche Volk und hatten nicht mehr verbrochen als die, wo wir hingekommen sind. Das war meinen Freundinnen, die nicht flüchten mussten, irgendwie nicht klar. Das war nicht ganz einfach …
(Kristin K., Jg. 1937)
Wir wurden durch die Polen aus Stettin vertrieben, das hatten die Russen so angeordnet. Das Allernötigste konnten wir auf einem Handwagen mitnehmen. Ich durfte mich als Kind auf den Wagen setzen, das machte mir Spaß. Wir waren Wochen unterwegs. Irgendwann wurde meine Mutter von den Russen mitgenommen. Opa und ich zogen weiter, trieben uns in Scheunen rum, damit wir wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. In Mecklenburg-Vorpommern liefen wir durch eine Stadt – auf einmal kam uns meine Mutter entgegen. Solche Zufälle gab’s! Sie hatte eine Glatze. Die Russen hatten sie vergewaltigt und dann kahl geschoren – wollten sie nach Russland verschleppen. Da hatte sie gesagt, sie muss mal und war geflohen. Zusammen zogen wir weiter, übernachteten in Scheunen. Die Bauern gaben uns nichts. Wir mussten auf Knien Rüben verziehen. Wir mussten uns das Essen verdienen. Dann bekamen wir auch ein Zimmer. Das mussten wir uns verdienen. Das Schlimmste waren die Bauern, die in Saus und Braus lebten und uns das fühlen ließen. Wir waren damals die Flüchtlinge, die heute aus anderen Ländern kommen. Wir waren einfach nicht willkommen.
(Helga Schwierzke, Jg. 1936)
Wir waren nach Stettin geflüchtet. Weil wir dort fast jede Nacht in den Luftschutzkeller mussten, zogen wir weiter zu Verwandten in den Warthegau. Wir lebten dort in einem deutsch-polnischen Dorf mit einer deutschen Minderheit, das bis 1939 zu Polen gehört hatte. Die Deutschen im Dorf waren die reichen Leute und besaßen Güter rundherum. Ich konnte sehen, wie die Polen schlecht behandelt wurden. Die mussten von den Bürgersteigen runter auf die Straße gehen, wenn wir als Deutsche vorbeikamen, und uns grüßen. Die Fahrräder der Polen waren weiß gestrichen, sodass man sie gleich erkennen konnte. In den Geschäften wurden sie als Letzte bedient. Die Regel war: Solange noch ein Deutscher im Laden ist, werden Polen nicht bedient.
(Alexander A., Jg. 1932)
Nach dem Krieg war Flüchtling ein Schimpfwort. »Du Flüchting!«, haben wir immer