"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt". Barbara Halstenberg

Читать онлайн.
Название "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"
Автор произведения Barbara Halstenberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955102685



Скачать книгу

alle hießen. Da hat uns unser Lehrer erzählt, das es eigentlich polnisch ein »von« war. Na ja, dann hieß er eben von Orlowsky …

      (Alfred D., Jg. 1936)

      Während wir auf der Flucht ständig die Züge wechselten, hing ich so gut es ging am Rockzipfel meiner Mutter. Auf einem der vielen Bahnsteige, auf denen wir umsteigen mussten, hatte ich ein Schlüsselerlebnis, von dem ich jahrelang noch nachts Albträume hatte. Da meine Mutter das Gepäck trug, sagte sie auf diesem Bahnhof zu mir: »Fass die Anneliese an.«

      Meine große Schwester wollte ich aber nicht anfassen. Das war das erste und letzte Mal, dass ich als Kind aufmüpfig war. Auf einmal war ich allein! Ich Kleine sah nur noch Hosenbeine um mich herum, die sich bewegten … nur Hosenbeine. Ich fing an zu weinen. So wurden wohl Leute auf mich aufmerksam und holten eine Rot-Kreuz-Schwester. Die Schwester nahm mich an die Hand und war gerade mit mir losgelaufen, als ich plötzlich meine Schwester die Treppe runterkommen sah. Ich rief: »Da ist meine Schwester!«

      Ich wusste damals nur, dass ich Roswitha heiße. Ich wusste nicht meinen Nachnamen, und wo ich wohnte und herkam, wusste ich auch nicht. Ich wäre ein Suchkind geworden. Wieder Glück gehabt … Meine Mutter saß währenddessen wie auf Kohlen mit dem Gepäck im überfüllten Zug, der gleich abfahren sollte. Aber Annie hatte mich geholt, und danach war ich immer artig. (Sie lacht.) Sehr lange hatte ich bildliche Direktträume – immer wieder dasselbe. Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass solche Träume aufhören, wenn ein Kind sich selbstständig weiß. Geblieben sind Träume – die hatte ich ewig –, in denen ich zu spät komme und die Rücklichter von Zügen sehe. Ist das nicht merkwürdig?

      Das war meine Kindheit, die mich geprägt hat. Ich habe mich in meinem Leben immer mitnehmen lassen. Ich habe nicht selber Initiative ergriffen. Ich habe auch nicht gesagt: ›Nee, das will ich nicht, oder das mach ich nicht.‹ Ich hab alles gemacht. Total angepasst. Das war nicht so gut für mich …

      Jedenfalls haben wir es überlebt. Die Menschen haben Fürchterliches durchgemacht. Ich kann nur hoffen, dass sowas nie, nie wieder passiert. Es war schon sehr schlimm.

      Ich merke, je älter ich werde, desto mehr denke ich an die Zeit zurück. Warum bloß? Merkwürdig …

      (Roswitha Weiß, Jg. 1939)

      Gerüche sind wandelbar. Zum Schluss des Krieges umgab uns ein ständiger Verwesungsgeruch. Ringsum war Tod. Ja, Tod und Verderben, sagt man immer, aber es war ringsum Tod, und es war ringsum Verwesung. Ich kann mich erinnern, als wir auf Kähnen die Ostsee entlanggeflüchtet waren und auf Rügen lagen und auf die Russen warteten, da starben auch Menschen. Die mussten ja beerdigt werden. Einige Leute waren bereit, Gräber zu schaufeln, wo sie die Toten einfach reinlegten. Ich guckte zu. Als ein toter Soldat nicht in das vorher geschaufelte Grab passte, wurde dem der Kopf abgehackt und danebengelegt. Anstatt das Grab größer zu machen, die Arbeit wollte man sich nicht mehr machen, ja … Das hat natürlich auch gestunken. Es war ja ein Toter, und die Leichenflüssigkeit kam raus und roch entsprechend. Der Geruch ging über das ganze Lager. Auf den Kähnen hatten wir das Problem, wo die Notdurft verrichtet werden konnte. Toiletten hatten wir nicht. Wir mussten es irgendwie über Bord bekommen. Und als wir tagelang im Hafen lagen, wurden auch keine Toiletten aufgestellt. Es wurden Donnerbalken geschaffen, auf die wir raufmussten, oder man hat sich die Hosen vollgemacht. Die Exkremente, die hinter den Donnerbalken fielen, umwehten nachher den ganzen Hafen. Und diesen Geruch haben Sie dann intus. Ich sag das jetzt mal ein bisschen drastisch, es roch nach Scheiße, Dreck und Tod. Und das hat Sie auch verfolgt. Das hat im Grunde genommen angedauert, bis wir wieder einigermaßen normale Verhältnisse hatten. Also bis die Russen im August, September 45 aufhörten, jeden zu erschießen, der ihnen nicht gefiel, oder jede Frau zu vergewaltigen. Dann ging auch der Geruch zurück. Es gab wieder ein bisschen Pflege und Reinlichkeit, obwohl wir gar keine Mittel hatten, keine Seife, nichts. Ich weiß nicht mehr, wie wir das gemacht haben. Wasser hatten wir. Ein Glück! Also, die Gerüche sind tatsächlich andere im Krieg und umwehen dann auch mehr oder minder jedes Tun. Sie werden davon bestimmt. Wenn ich daran denke, als ich die Bahnstrecke von Ueckermünde nach Berlin langlief, weil die Schienen von den Russen rausgerissen worden waren, lagerten auf den Bahnhöfen überall Flüchtlinge. Die waren auch umweht von den Gerüchen. Ich roch schon ein paar Kilometer vorher, dass ich in die Nähe eines Bahnhofs kam. (Er lacht.) Es war wirklich so. Eigentlich auch erklärlich …

      (Burkhard C., Jg. 1932)

      Ende 44 hörten wir plötzlich Kanonendonner. Die Stadt war in Aufregung. Die Russen! Die Russen kamen langsam näher. Was jetzt machen? Meine Mutter, sehr clever, horchte rum. An einem Vormittag sagte sie plötzlich: »Nimm deine Schultasche und tu das rein, was du gerne möchtest, wir gehen sofort zum Bahnhof und fahren raus aus Ostpreußen.«

      Meine Mutter bepackte in höchster Eile den kleinen Kinderwagen mit ein paar Windeln. Wir ließen alles in der Wohnung, hatten nur das Allernötigste bei uns. Am Bahnhof stand ein völlig überfüllter Rot-Kreuz-Zug mit verwundeten Soldaten und Müttern mit Kindern. Man presste in den Zug rein, was reinging. Wir hatten Glück. In unserem Abteil saßen vier oder fünf Familien. Die Kinder lagen in den Betten und die Erwachsenen auf der Erde. Ich auch. Kein Platz. Die Gänge waren voll. Ich hörte die Schreie von den Verwundeten, die in den anderen Abteilen lagen. Der Zug fuhr mit uns nach Dresden. Der Hauptbahnhof lag in Trümmern! Diesen Eindruck habe ich bis heute nicht vergessen. Es war nichts mehr von Dresden da. Mit Bussen wurden wir auf die Dörfer verteilt. Wir bekamen eine kleine Wohnung bei einem Bauern in Friedrichsfelde, eine Küche mit einer kleinen Kammer. Meine Schwester schlief im Kinderwagen und ich mit meiner Mutter im Bett in der Kammer.

      (Ursula R., Jg. 1934)

      Zur Flucht muss ich sagen, weil das ja jetzt auch wieder aktuell ist: Es war damals zwar Flucht, aber wir kamen ja nicht ins Ausland. Wir konnten uns immer verständigen und kamen zu Deutschen. Nicht immer wurden wir gut empfangen. In der Nacht vor Pfingsten nahm uns keiner auf und um neun mussten die Flüchtlinge immer von der Straße runter sein. In Thüringen hatten sie nichts vom Krieg erlebt, keine Bomben, keine Flucht, nichts. Keiner nahm uns auf. Wir gingen zum Bürgermeister, der sich dann kümmerte, dass wir irgendwo aufgenommen wurden. Die Leute saßen alle vor ihren dicken Kuchenblechen. Sie gaben uns dann auch was ab. Meine Mutter und meine Tante kamen in eine Familie, wo ihnen eine Kammer angeboten wurde. Aufs Klo mussten sie in den Hof. Sie kriegten nichts zu essen und zu trinken. Sowas gab es eben …

      (Heidi P., Jg. 1934)

      Hintergrundinfos: Flucht und Vertreibung

      Zwischen 1939 und 1950 waren etwa 25 bis 30 Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden zunächst die Menschen in den von Deutschen eroberten und besetzten Gebieten zur Flucht gezwungen. Millionen Polen, Ukrainer, Weißrussen und Balten mussten fliehen oder wurden von der Wehrmacht vertrieben. Gegen Ende des Krieges und nach Kriegsende wurde die deutsche Zivilbevölkerung dann selbst Opfer von Flucht und Vertreibung. Rund 18 Millionen Deutsche lebten vor Kriegsende in den Ostprovinzen des Reiches oder in den deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südeuropa. Etwa 14 Millionen Deutsche waren in der Endphase des Krieges nach Westen geflüchtet oder wurden nach dem Kriegsende vertrieben oder deportiert. Millionen ehemaliger Soldaten, befreiter KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter waren als sogenannte Displaced Persons unterwegs. Hinzu kamen Zehntausende Kinder aus der Kinderlandverschickung und Millionen ehemals Evakuierte, die versuchten, nach Hause zu kommen.

      Die Flüchtenden waren bei Kriegsende weitestgehend auf sich allein gestellt, viele erfroren, wurden von feindlichen Tieffliegern beschossen oder fielen den sie überholenden sowjetischen Truppen zum Opfer. Gut zwei Millionen Deutsche verließen ihre von der Roten Armee eroberte Heimat nicht und waren in der Folgezeit häufig Repressalien ausgesetzt. Den spontanen Vertreibungen bei Kriegsende folgte die systematische Vertreibung der Deutschen aus dem Osten aufgrund des Potsdamer Abkommens. Unter staatlicher Aufsicht wurden in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei die dort noch lebenden Deutschen in das Gebiet der alliierten Besatzungszonen zwangsumgesiedelt, nachdem ihr Eigentum zuvor bis auf das Handgepäck konfisziert worden war.

      Zwischen 600 000 und über eine Million Zivilisten kamen bei