Название | Die Flucht in den Hass |
---|---|
Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Diesem umfassend grundsätzlichen Sachverhalt sei ein engerer untergeordnet. Es wird in diesem Buche festgestellt werden, daß unter den im Nationalsozialismus wirkenden Massenreizen der Antisemitismus nicht die entscheidende Rolle spielte. Im besonderen habe nur ein verschwindend kleiner Kreis derer, die dem Nationalsozialismus zum Erfolge verhalfen, ihm damit ein Mandat zur Vollstreckung der Judenvernichtung zu geben beabsichtigt. Auch für diese Auffassung, die das Ergebnis eingehender Prüfung ist, gilt die Warnung, sie nicht als Entschuldigung aufzufassen. Es ist gewiß kein Anlaß, sich entlastet zu fühlen oder gar stolz darauf zu sein, daß die 17 277 200 Deutschen, die am 5. März 1933 ihre Stimmen der Nationalsozialistischen Partei gegegeben haben, damit keineswegs ausgezogen sind, die Juden zu ermorden. Viel eher haben diese 17 Millionen und ihre Gesinnungsfreunde ausreichend Grund, sich der Blindheit und schlimmeren Versagens anzuklagen; denn durch ihre Wahl hatten sie sich mit Demagogen eingelassen, die aus ihrer Neigung zu Gewalttaten nie ein Hehl gemacht hatten, und deren Hemmungslosigkeit auf der abschüssigen Bahn des Verbrechens längst hätte erkannt sein müssen. Es sollte für niemanden ein Anlaß zur Selbstzufriedenheit sein, daß ihm zwar nicht Mordlust, wohl aber moralische Trägheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen nachgewiesen wird. Als ob man „nationale Ideale“, wo immer diese unter der Wählerschaft ernstgenommen wurden, Händen hätte anvertrauen dürfen, die von wilder Angriffslust getrieben wurden und nicht von liebender Zucht gelenkt!
Man wollte nicht morden – damals. Man war nur träge, gleichgültig, fahrlässig. Aber dann wurde gemordet. Trägheit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit hatten das Beil in die Hand des Henkers gleiten lassen. Schmachvolle Unterdrückung war das Los derer geworden, die in der Wahl ihrer „Befreier“ so schuldhaft geirrt hatten.
1945 erfuhr die Welt mit Entsetzen, was in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geschehen war. Jetzt standen vor allen Deutschen die Zeugnisse eines Grauens, das viele vorher nur dumpf geahnt hatten. 1945 herrschten Hunger, Obdachlosigkeit und Massenelend; aber eines gab es wieder, das den Deutschen zwölf Jahre versagt gewesen war: das freie Wort.
Da ich mir eingangs die Freiheit ausdrücklich erbeten habe, in diesem Vorwort meine persönliche Meinung aussprechen zu dürfen, will ich ohne Rückhalt sagen: mir scheint, die Deutschen hätten die Freiheit des Wortes nicht genügend genutzt, um von dem Verbrechen an den Juden zu sprechen. Bruchstückhafte Kunde, die während des Krieges aus Deutschland zu dem angsterfüllten Beobachter im Ausland gedrungen war, hatte Besseres erhoffen lassen. Nun horchten wir erwartungsvoll. Aber der Aufschrei des Entsetzens über das grauenhafteste Verbrechen, das je das Antlitz des Menschen entstellt hat, – der Aufschrei blieb aus. Stimmen ertönten, ergreifende Stimmen der Klage und der Anklage. Keine von ihnen ist ungehört verhallt, keine wird vergessen werden.* Das Volk aber blieb stumm. Zu viele Menschen, deren Ruf auch die Lauen hätte mitreißen können, verharrten in Schweigen. Worte wären damals Taten gewesen. Trotz Wirrnis und Verlorenheit im Äußeren galt es damals, Grundsteine für ein neues Deutschland zu legen, auf denen verläßliche Mauern hätten errichtet werden können, sobald das Chaos gebannt war.
Später wurde manches Versäumte nachgeholt. Es blieb nicht nur bei Worten, von denen einige besonders starke und aufrichtende vom Staatsoberhaupt, Professor Theodor Heuss, gesprochen wurden; es wurde ein Wiedergutmachungswerk ins Leben gerufen, das den Überlebenden der Katastrophe einen Teil des materiellen Schadens ersetzen soll, der ihnen zugefügt worden ist. Die deutsche Bundesrepublik besaß jetzt eine gewählte Vertretung, die für das Volk sprechen konnte. Wirklich für das Volk? Der Zweifel daran will nicht zur Ruhe kommen.
Ich weiß um alle Gründe, die dem spontanen Aufschrei des Entsetzens entgegenstanden. (Er hätte nicht in ein Bekenntnis der „Kollektivschuld“ überzugehen brauchen, die in einem primitiven Sinne nicht vorlag, und der in einem tieferen Sinne nachzuspüren, nicht jedermanns Sache sein kann.) Ich weiß um die Zerrüttung der äußeren Lebensbedingungen jener Nachkriegsjahre, weiß auch um die psychologischen Mechanismen des Selbstschutzes, die sich hemmend einzustellen pflegen, wo bei strenger Selbstprüfung die Gefahr der Zerknirschung unabwendbar wäre. Aber wieder bleibt trotz allem Verstehen ein schmerzendes Gefühl der Enttäuschung. Sollten wirklich Gleichgültigkeit und Trägheit des Herzens – die Laster, durch die die Deutschen in Schuldverstrickung geraten sind, – auch das neue Deutschland wieder heimsuchen?
Stimmen, meist lautstark und unentwegt vorgetragen, die heute schon wieder die „Endlösung der Judenfrage“ aus „nationalen“ Gründen zu verteidigen suchen oder versichern, daß „nur“ eineinhalb Millionen Juden ermordet worden seien, sprechen keine menschliche Sprache, die sie uns verständlich machen könnte. Deutlicher schon dringen jene verhaltener vorgebrachten Worte zu uns, die das Schreckliche „aufzurechnen“ sich unterfangen gegen die Leiden des eigenen Volkes. Am mißtönendsten aber gellen uns die Untertöne der Verlegenheit ins Ohr, die dort hörbar werden, wo man sich erst über das geschehene Unrecht entrüstet, um dann etwa fortzufahren: „Aber Sie müssen doch zugeben …“ Was in einem Gespräch, das diesen Verlauf nimmt, „zugegeben werden muß“, ist in der Regel der unbewältigte und unbereinigte Bodensatz der Unlustgefühle gegenüber den jüdischen Mitbürgern von einst, die damals der Nationalsozialismus so meisterhaft zusammenzuballen verstand, bis sie die Bausteine lieferten für seine Todesfabriken. Wer mit einem säuberlich auseinandergesetzten „Zwar – Aber“ mit sich selbst ins reine zu kommen versucht, billigt gewiß nicht den Mord; aber er billigt – in individueller Abstufung – die Voraussetzungen, die zum Morde geführt haben: Entrechtung, Berufsentziehung, Austreibung. Manchmal will es scheinen, als dröhne durch Deutschland heute noch – oder wieder – ein Chor gebrochener Stimmen, die sich zu rechtfertigen suchen, wo ein erschüttertes Schweigen oft lauter spräche als alle Argumente erklügelter Scheinlogik. Und doch gibt es auch das, das erschütterte Schweigen. Und es gibt die leisen Worte der Klage, die der Mensch zu sich selbst spricht und die nicht dazu bestimmt sind, Eindruck zu machen auf eine weite Öffentlichkeit. In ihnen bedarf es nicht der Verdammung der Gewalttaten; das schaudervolle Entsetzen, das sie erregten, zeigte sie doch niemals als eine mögliche Verirrung der eigenen Seele. Viel schwerer als die selbstherrliche Abwehr kapitaler Verbrechen ist die Prüfung der eigenen Schwäche, die etwa zu solchem Ergebnis führt: „Wir waren bequem und gleichgültig. Der Wille zur Freiheit lebte nicht in uns, und wir wußten nicht mehr, was Recht ist. Wir fühlten, daß unser Leben verarmt ist, weil wir unsere jüdischen Mitbürger entbehren: wir vermissen sie als Anreger im Geistigen und Wirtschaftlichen, als Menschen, die schon dadurch, daß sie wie wir und doch andersartig waren, uns eine ständige Mahnung hätten bedeuten sollen zum Fortschritt in der Gestaltung menschlicher Beziehungen, zu Rechtlichkeit und Menschlichkeit. Wir haben die Mahnung damals nicht gehört zu unserer Schande und zu unserem Schaden. Daß wir sie nicht mehr in unserer Mitte hören dürfen, beklagen wir als schmerzlichen Verlust.“
Der Tag, an dem in solchen Aussagen die Gedanken der Mehrheit aller Deutschen zutreffend wiedergegeben werden, würde die Zuversicht begründen, daß sie von der Krankheit des Hasses genesen sind. Dieses Buch, das die Frage zu beantworten sucht, wie es zu der „Flucht in den Haß“ gekommen ist, stellt gleichzeitig die Frage, ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem