Название | Die Flucht in den Hass |
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Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Ihre Analyse deckt sich in manchen Teilen mit den Untersuchungen der exilierten Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, vor allem mit deren Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit. Auch die Arbeiten von Leo Löwenthal zur Funktion von Propaganda standen im Hintergrund.4 Die Auswertungen dieser Experimente erschienen nach der englischen Version von Reichmanns Buch, sie verwies aber explizit auf diese in der deutschen Ausgabe. Wie die Vertreter der kritischen Theorie befasste sich auch Reichmann letztlich mit den Schwierigkeiten von Individuen, in modernen und sich schnell verändernden, demokratischen Gesellschaften Orientierung zu finden. Gerade deshalb sei die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit auch so wichtig, denn erst die aktive Anerkennung, einen Irrweg eingeschlagen zu haben, ermögliche Umkehr und einen Bewusstseinswandel.5
In akademischen Kreisen fand das Buch von Eva Reichmann überwiegend Anklang und Zustimmung, ebenso in Gruppen des deutschjüdischen Exils, sofern diese weiterhin dem Programm des CV folgten. Der Soziologe Kurt Sontheimer rezensierte es für die FAZ und drückte seine Hoffnung aus, es könne zur Neubelebung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beitragen.6 Das hat es wohl auch getan, allerdings eher indirekt und nicht auf die Art und Weise, die Eva Reichmann selbst intendierte. Die öffentliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik wurde in den sechziger Jahren von Gerichtsverfahren und der Berichterstattung dazu mehr beeinflusst als von wissenschaftlichen Büchern und Debatten. Die 68er-Studierendenbewegung befasst sich eher mit Adorno als mit Reichmann. Die öffentliche Debatte änderte sich dann bekanntlich erst mit der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, die 1979 ausgestrahlt wurde, und den Historikerdebatten in den 1980er Jahren. Bis dahin waren Eva Reichmann und ihr Buch vor allem in den Kontexten von Akademien, christlich-jüdischen Vereinen und den Einrichtungen zur politischen Bildung bekannt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde ihr Buch in Seminaren zum Antisemitismus und zur jüdischen Geschichte gelesen und fand auf diese Weise Eingang in sozial und politisch distinkte Diskussionsgruppen. Es ist auf diese Weise vielen Menschen bekannt geworden und sicherlich als ein Klassiker einzuordnen, wenn auch eher als ein heimlicher Klassiker.
Wer heute nach zentralen Werken zur Analyse des Aufstiegs des Nationalsozialismus fragt, wird nicht den Namen von Eva Reichmann hören – und doch lohnt es sich nach wie vor, das Buch zu lesen, gerade auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten über populistische Bewegungen, dem Erstarken des Rechtsextremismus in ganz Europa und der polarisierten Diskussion über den Umgang mit Minderheiten. Am Beispiel der „Judenfrage“ zeigt das Buch, was passieren kann, wenn soziale und wirtschaftliche Krisen von Populist*innen genutzt werden, um antirationale, antiliberale und antidemokratische Politik zu legitimieren – und eine große Zahl Menschen bereit ist, ihnen zu folgen. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht, doch die aktuellen gesellschaftlichen Spaltungen und individuellen Krisenerfahrungen gleichen doch in mancher Hinsicht den unruhigen zwanziger Jahren in Deutschland. Kein Zufall also, dass wieder verstärkt über Gruppenspannungen, emotionalisierte Politik und die Funktionalisierung von Ressentiments gegen Minderheiten in der politischen Debatte diskutiert und geforscht wird.7 Eva Reichmanns Buch hat damit eine neue Aktualität gewonnen – leider, so muss man sagen.
Kirsten Heinsohn
1Transkript des Gespräches zwischen Hans Lamm und Eva Reichmann 4.- 6.2.1981 in London, ZDF Produktion Nr. 6351/0827, Archivnr. 0012521501, S. 41.
2Kirsten Heinsohn: Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Festgabe für Barbara Vogel, hrsg. v. Henning Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns, Kirsten Heinsohn, Hamburg 2006, S. 295-308.
3Eva Gabriele Reichmann: Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11/12.
4Siehe dazu die Neuausgabe von Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, unter Mitarbeit von Norbert Guterman. Aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke, Berlin 2021. Das Buch erschien 1949 zuerst in den USA.
5Eva Reichmann führte diesen Zusammenhang noch deutlicher in ihrem Beitrag: Zeitgeschichte als politische und moralische Aufgabe, hrsg. v. Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung, Hamburg 1962, aus. Gekürzt wiederabgedruckt in: Eva G. Reichmann: Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 90-104.
6Kurt Sontheimer, FAZ 30.11.1956, S. 21.
7Vgl. etwa Marcia Pally: Kampf der Traumatisierten. Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt die Anhänger Trumps an, in: taz am wochenende 23./24.1.2021, S. 11.
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Am Beginn eines Buches, das eigenes Erleben auf die Ebene akademischer Objektivität zu heben bestimmt ist, mag ein persönliches Wort erlaubt, ja sogar gefordert sein.
Möge keiner meiner Leser glauben, daß mir diese Objektivität leicht geworden wäre. Nicht weil ich den behandelten Fragen mit kühlem Abstand gegenüberstehe, habe ich das Buch schreiben und so schreiben können, sondern weil sie den Mittelpunkt meines Lebens bilden, weil ich mich der Gewalt, mit der sie eine Antwort forderten, nicht entziehen konnte. Sollte aber die Antwort durch die Art, in der sie gesucht und gegeben wurde, ihre Gültigkeit nicht selbst verneinen, so mußte sie notwendig eine wissenschaftliche Antwort sein. Die deutende Schau des schaffenden Künstlers ist mir versagt. Einer prüfenden Forschung und bedachtsam abwägenden Erklärung fühlte ich mich gewachsen. In ihnen bleibt kein Raum für den Ausdruck der Qual, der Leidenschaft und der Anklage. Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig.
Noch einem anderen Mißverständnis möchte ich vorzubeugen versuchen. Wenn irgendwo „alles verstehen“ nicht bedeuten kann „alles verzeihen“, so im Zusammenhang dieses Buches. Ich habe mich bis in vielfältige Einzelheiten hinein bemüht, Ursachenketten am Werk zu zeigen, die scheinbar diese und nur diese Wirkungen hervorbringen konnten. Geschichtsschreibung, so ist gesagt worden – und man darf das Wort wohl auch auf die soziologische Betrachtung anwenden –, ist rückwärtsgerichtete Prophetie. Aber so sehr dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt, so wenig haben Politiker, Historiker und wer wohl sonst noch die Pflicht hatte, Warner zu sein, etwa im Jahre 1930 einen Ausgang vorauszusehen vermocht, wie er schließlich im Jahre 1945 eingetreten ist. War das nur menschlicher Beschränktheit zuzuschreiben? Auch diese Warner sahen manche drohende Zeichen, die auf eine kommende Katastrophe hindeuteten. Aber indem sie sich sträubten, als unabwendbares Schicksal hinzunehmen, was wenige Jahre später zur schreckenvollen Wirklichkeit wurde, offenbarten sie ein besseres Gefühl für die Freiheit der Menschen, andrängende Gefahren abzuwehren, als die Systeme eines philosophischen oder ökonomischen Determinismus ihnen einzuräumen bereit sind.
Daß auf dem deutschen Volk Schwierigkeiten lasteten,