Blaue Blumen zu Allerseelen. Santo Piazzese

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Название Blaue Blumen zu Allerseelen
Автор произведения Santo Piazzese
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558009



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nach wie vor auf dem Platz zwischen dem Haus und den Gleisen der Schmalspureisenbahn. Auch die Pkws waren noch da, einige große schwarze Alfa Romeos mit Blaulicht auf dem Dach, das jetzt ausgeschaltet war.

      Der Junge hatte die näherkommenden Schritte deutlich vernommen und zuckte deshalb auch nicht zusammen, als sich der mächtige Schatten eines Mannes über ihn schob und einige Momente verharrte. Dann ging der Mann weiter bis zum Saum der Bucht und ließ dabei genussvoll den Kies unter seinen Schuhen knirschen – zumindest deutete der Junge das so. Lange blickte der Mann übers Wasser, das mit jeder Brandungswelle die Spitze seiner zweifarbigen Schuhe umspülte. Schließlich näherte er sich erneut dem Jungen, der die Bimssteine auf der anderen Seite neben sich hatte fallen lassen.

      — Um den Teer wegzukriegen, sagte er, brauchst du Öl. Oder zumindest einen Bimsstein.

      Der Junge nahm die Steine zur Hand und zeigte sie dem Mann. So zu ihm hochschauend erschien er ihm wie ein Riese im grauen Anzug, der einen Strohhut mit havannabraunem Band auf dem Kopf trug. Riesig und überproportioniert zwischen den Felsen und dem Teerflecken.

      Der Mann nickte wortlos. Sein Gesicht war terrakottafarben. Der Junge wandte sich erneut zum Bretterhaus um. Dort öffnete gerade ein junger Mann die Ladetüren des Transporters; zwei andere Männer kamen mit einer Bahre aus dem Haus, über der ein weißes Tuch lag, dessen Saum beinahe den Erdboden berührte. Das Tuch schien sich nur leicht zu kräuseln, so schmal war die Silhouette, die sich ganz schwach darunter abzeichnete. Signorina Lo Giudice war nach ihrer Pensionierung wie ausgedorrt. Die Männer schoben die Bahre in den Laderaum, schlossen die Türen und stiegen ein. Sie waren ganz in Weiß gekleidet, trugen weiße Kittel. Langsam fuhr der Transporter los.

      Andere Männer verließen das Haus. Einer hielt einen Fotoapparat mit großem Blitzlichtstativ in der Hand. Ein junger Mann im grauen Anzug mit lockerem Krawattenknoten näherte sich bis auf Hörweite und blieb am Rand der Fläche aus weißen Steinen stehen, genau oberhalb der fest ins Gestein eingepassten Ädikula mit der ewig brennenden Votivlampe.

      — Kommissar, sagte er, wir wären hier fertig.

      Der Mann machte eine Geste mit dem Arm. Dann sah er auf den Jungen.

      — Wie heißt du?, fragte er.

      — Spotorno, heiße ich, sagte der Junge.

      — Spotorno, wie noch?

      — Vittorio. Vittorio Spotorno.

      — Aha, Vittorio. Wie König Vittorio Emanuele. Und was willst du einmal werden, wenn du groß bist, Vittorio Spotorno?

      Der Junge blickte zum Horizont. Dann drehte er sich zu der hell gekleideten Gestalt um. Der Mann trug ein kleines Abzeichen am Revers seines Sakkos, etwas, das mit einem König im Exil zu tun hatte. Er kannte das Abzeichen von Diegos Opa, der oft von Königen redete und den er sehr mochte. Der Mann sah ihn noch immer an, als hinge von seiner Antwort das Schicksal des ganzen Erdenrunds ab.

      — Ich will Kommissar werden, sagte der Junge. Polizeikommissar.

       Via degli Emiri, viel zu viele Jahre später

      Er kam sich vor wie in dieser alten Fernsehdokumentation, in der ein Chirurg das Gehirn eines nur lokal betäubten Mannes mit einer Sonde stimulierte, und sobald er einen bestimmten Punkt in der Gehirnrinde berührte, behauptete der Mann, eine grüne Wiese zu sehen, auf der er und seine Mutter wandelten. Die etwas monotone, abgehackte und doch durchdringende Stimme des Mannes schien aus weiter Ferne zu kommen, wie aus einer fremden Galaxie. Aber es war eine flüchtige Galaxie, denn die Sonde hatte Erinnerungen zu neuem Leben erweckt, die aus dem Bewusstsein des Mannes längst verschwunden waren.

      Polizeiobermeister Puleo hatte fast die gleichen Worte benutzt wie damals der junge grau gekleidete Mann, am Tag der Ermordung von Signorina Lo Giudice, vor viel zu vielen Jahren, und Spotorno war es, als hätte ihm jemand eine Sonde ins Gehirn getrieben.

      — Dottore, wir wären hier fertig, hatte Puleo gesagt.

      Ob man noch immer Bimssteine findet?, fragte sich Spotorno unmittelbar, in einer Art unerbittlichem und grausamem Reflex. Er musste richtiggehend an sich halten, um nicht nach unten zu sehen und zu kontrollieren, ob Teer unter seinen Fußsohlen klebte. Seltsam war, dass ihn der Reflex nicht eine Stunde früher hinter der Zisa, in einer Seitenstraße der Via degli Emiri überkommen hatte, als er in einem der beiden Ermordeten im himmelblauen Fiat 127 Rosario Alamia erkannte.

      Vielleicht war es seiner langjährigen Erfahrung mit Mordopfern zu verdanken, wenn sich aus dem zerschlagenen und entstellten Gesicht des Mannes mit dem vielen Blut doch noch Stück um Stück das Bild eines jungen rothaarigen Burschen zusammensetzte, das in Spotornos Erinnerungen aus der Kindheit nur noch in vagen Umrissen vorhanden war.

      Der Erfahrung sei Dank, das ja, aber ohne vor Dankbarkeit Luftsprünge zu machen. Mordopfer hatte der Herr Kommissar bereits so einige gesehen, zu viele. Und auf den Doppelmord des heutigen Tages hätte er gerne verzichtet. Ein Fall von »Saturnismus Kaliber zwölf« hätte sein Freund Lorenzo konstatiert, mit anderen Worten: eine Bleivergiftung. Lorenzo, dieser scheinheilige Zyniker.

      Es kam nicht von ungefähr, dass er an Lorenzo La Marca dachte. Vor knapp einer Stunde waren sie noch zusammen gewesen, als im Polizeifunk die Meldung von der tödlichen Schießerei bei der Zisa kam. Und sie waren nicht etwa wegen eines Ausflugs ins Grüne zusammengekommen. Die von der Zisa waren für Spotorno nämlich nicht die ersten Toten an jenem Samstag Ende Juni. Und am Vortag hatte ein Nachtwächter, als er seine Gattin am Telefon mit ihrem Liebhaber erwischt hatte, die Dienstpistole auf sie gerichtet und das Magazin leer geschossen.

      So ist es immer, dachte er. Es gab Wochen, in denen nichts, absolut gar nichts geschah. Und plötzlich machte es zur selben Zeit Klick im Hirn seiner Mitbürger, der Schalter war umgelegt, und das Verbrechen hatte freie Bahn. Dann genügten nicht einmal Achtundvierzig-Stunden-Tage.

      Mit einem gewissen Bedauern hatte er den ersten Toten des Vormittags zurückgelassen, einen Kerl, den sie im Wasserrosenteich in den Giardini Botanici Comunali in der Via Medina-Sidonia entdeckt hatten. Vermutlich Tod durch Ertrinken.

      Die beiden Todesfälle mussten miteinander in Verbindung stehen, daran gab es nichts zu rütteln. Ein schön verzwicktes Schlamassel, ganz nach Spotornos Geschmack. Es hätte ihm gefallen, sich tiefer in den Fall zu versenken. Doch angesichts der Wahrscheinlichkeit eines neuen Mafiakriegs musste er sich das aus dem Kopf schlagen.

      Puleo glaubte offenbar, sein Chef hätte ihn gar nicht gehört.

      — Dottore, wir wären hier fertig, wiederholte er im Näherkommen.

      Spotorno nickte.

      Ein guter Kerl, dieser Polizeiobermeister Puleo. Neapolitaner bis ins Mark, höflich, wohlerzogen, einfühlsam, nur wenige Leute hätten ihn für einen Bullen gehalten. Puleo war gleich aufgefallen, dass im Kopf seines Chefs etwas nicht ganz richtig tickte und dieser sich manchmal in einem Zustand meditativer Entrücktheit, in einer wissentlich herbeigeführten Abwesenheit befand, die er in der Zwischenzeit zu erkennen wusste. Wieder einmal kam ihm der ungebührliche Gedanke, dass Kommissar Spotorno für seinen Beruf eigentlich nicht geschaffen war. Und das Bewusstsein, dass der Kommissar von ihm das Gleiche dachte, erschien ihm ungemein faszinierend. Auch deswegen schätzten