Es gibt keine Wiederkehr. John Mair

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Название Es gibt keine Wiederkehr
Автор произведения John Mair
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939483649



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nur in sehr seltenen und verwirrenden Momenten zeigte sie ihre Empfindungen.

      Eines Abends, es war kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen, bemerkte sie seine ungewöhnlich kräftigen, dunkel behaarten Handgelenke und Unterarme. Ihm schmeichelte ihr Interesse an dem einzig bemerkenswerten Teil seiner physischen Ausstattung, und so prahlte Desmond und rühmte sich der Kraft seiner Arme: er könne sein gesamtes Gewicht an einer einzigen Hand hinaufziehen und sogar einen Stapel Spielkarten zerreißen. Dazu aufgefordert, hatte er einer Vorführung zugestimmt, und ohne sonderliche Mühe verbog er einen beachtlichen Schürhaken.

      Anna schien diese sinnlose Demonstration fasziniert zu haben, sie umfasste seine Hände und zog sie gegen ihre Brust. «Ich bewundere Kraft», sagte sie und küsste seine Handgelenke.

      Er reagierte seltsam gereizt und entzog ihr seine Hände.

      Sie lachte. «Amer Liebling! Soll ich dich lieber auf den Kopf küssen?»

      «Warum denn nicht?»

      «Das Leben gehört den Starken.»

      «Sentimentaler Unfug! Es gehört den intellektuell und psychisch Starken, wenn du so willst – jedenfalls nicht muskulösen Tölpeln.»

      Sie legte ihm die Hand auf die Lippen und zog den halb Widerstrebenden an sich. Seit sie miteinander schliefen, hatte er sie noch nie so leidenschaftlich erlebt.

      Aus Gründen, die er nicht durchschaute, blieb diese kleine Begebenheit wie ein störender Fleck in seinem Gedächtnis haften. Und noch etwas brachte ihn aus der Fassung. Sie hatten auf ihre übliche und wenig konkrete Weise über den Tod gesprochen, als Anna sagte:

      «Ich habe noch niemals einen Toten aus der Nähe gesehen, obwohl ich das schon immer gern wollte.»

      «Wenn ich jetzt ein mittelalterlicher Ritter wäre, würde ich einfach den nächsten Passanten anhalten und dir einen zum Geschenk machen. Aber wie die Dinge heutzutage liegen, werden bald überall in Europa Leichenberge herumliegen, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen – warte einfach ab, bis die Luftangriffe beginnen.»

      «Aber ich meine es ernst. Ich möchte wirklich gern einen Toten sehen.»

      «Nun, nichts leichter als das. Schau dir einfach die Anschlagtafeln vor den Polizeiwachen an, bis irgendwo ein unbekannter Leichenfund gemeldet wird. Dann gehst du hin und erklärst, die Beschreibung passe auf deinen verschollenen Onkel Ben, und bitte sie, dir den Leichnam zu zeigen. Wahrscheinlich gibt es ein paar Formalitäten, aber allzu kompliziert dürfte es nicht werden.»

      «Kluger Desmond, er denkt immer sofort an solche Sachen! Komm, wir suchen eine Polizeiwache.»

      «Ich glaube, eine liegt gleich um die Ecke.»

      Sie schlenderten durch Covent Garden und blieben im bläulichen Schimmer eine Lampe in der Bow Street stehen. Desmond beugte sich zum Schwarzen Brett herunter.

      «Tatsächlich, sie hatten kürzlich eine ziemlich gute Ernte. Ich glaube, wir dürften stolz sein auf die Bekanntschaft mit ‹Körper: männlich; Alter: um die sechzig; drei Goldzähne im Oberkiefer; doppelreihiger blauer Anzug; Filzhut; dunkelblaues Hemd; rot gepunktete Krawatte; Lederschuhe; keine Unterwäsche›. Oder wie wäre es mit ‹Körper: weiblich; etwa vierzig Jahre; Muttermal auf der linken Gesichtshälfte bis zum Nacken; Linsentrübung am rechten Auge; grüner Mantel, brauner Glockenhut›? Der Glockenhut klingt wirklich traurig – vielleicht ist es unsere ältere Schwester, die vor vielen Jahren auf die schiefe Bahn geraten ist?»

      In diesem Ton plapperte er eine Weile weiter, bis Anna ihn unterbrach. «Entscheide dich einfach, und wir gehen hinein und fragen nach.» Sie schritt auf die Treppe zu.

      «Anna! Wo willst du hin?»

      «Ich möchte eine Leiche sehen! Worüber haben wir denn die letzten zehn Minuten geredet? Komm mit und halt den Mund.»

      Desmond war bestürzt. Er hatte nicht einen Moment daran gedacht, dass sie es ernst meinen könnte, und glaubte auch jetzt noch an einen ihrer spontanen Scherze.

      «Ach komm, sei doch nicht albern!»

      Sie blickte ihn kalt an.

      «Mein lieber Desmond, ich bin nicht wie du. Ich verschwende meine Zeit nicht mit klugen Plänen, die ich niemals umsetzen möchte; ich sage, was ich denke, und tue, was ich will. Ich habe dich nicht um deine Begleitung gebeten: Wenn du zimperlich bist, kannst du ja nach Hause gehen.»

      In ihrer Zurechtweisung steckte genügend Wahrheit, um ihn zunächst zum Schweigen zu bringen, und er antwortete ihr nicht. Ohne sich weiter umzuschauen, ging sie die Treppe zur Polizeiwache hinauf. Desmond zögerte einen Augenblick, dann schritt er die Straße hinunter, gleichermaßen ärgerlich auf sie wie auf sich selbst.

      Bei ihrem nächsten Zusammentreffen einige Tage später fragte er: «Hast du also deine Leiche gesehen?»

      «Ja. Es war schwieriger, als du angenommen hast, aber am Ende ist es gelungen. Es hat mich aber nicht wirklich befriedigt», fügte sie nachdenklich hinzu. «Er war zu alt und schien zu friedlich gestorben zu sein.»

      Er starrte sie an und bemerkte, dass sie vollkommen ernsthaft blieb.

      «Du ekelhafte kleine Schlampe.» Er schlug ihr ins Gesicht, durchaus heftig. Er erwartete eine Szene, aber sie sagte nur:

      «Warum bin ich nicht wie andere Menschen?» Ohne ihr Gesicht mit den Händen zu bedecken, weinte sie leise und bitterlich. Er versuchte, sie zu umarmen, doch sie stieß ihn zurück.

      «Geh jetzt», forderte sie ihn mit erstickter Stimme auf, «und komm auf keinen Fall zurück, bevor ich dich anrufe.»

      Er ging. Sie meldete sich drei Wochen lang nicht. Beide erwähnten den Vorfall später mit keinem Wort.

      Es waren kurze Einblicke in eine seltsame und unerfreuliche Seite ihres Wesens, die ihn durchaus verunsicherten; Eifersucht und Misstrauen aber führten schließlich dazu, dass er sie zu hassen begann.

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      Schon zu Anfang ihrer Beziehung war ihm bewusst, dass er allenfalls einen begrenzten Ausschnitt ihres Lebens ausfüllte, und die Freiheit von jeglicher Verantwortung, die eine solche Position verleiht, hatte ihm zunächst zugesagt. Vermutlich hatte er anfangs sogar geglaubt, er könne mühelos alles Wissenswerte über sie in Erfahrung bringen und sie, wie alle früheren Damenbekanntschaften, rasch einer der wenigen und belanglosen Kategorien zusortieren. Tatsächlich aber verstand er sie umso weniger, je länger ihre Bekanntschaft währte; und aus anfänglicher Neugierde erwuchs eine Obsession. Sie glich keiner Frau, der er je begegnet war; und der bloße Gedanke daran, dass sie noch ein ganz anderes und weiter gespanntes Leben führen könnte als das ihm bekannte, bereitete ihm ein wachsendes Missvergnügen. Und so erlag er der unter Männern weit verbreiteten, ihm selbst aber bislang fremden Täuschung, dass keine Frau auf Erden der Geliebten das Wasser reichen könne und dass, sollte er Anna jemals verlieren, dieser Verlust niemals zu ersetzen sei. Er wollte sie gar nicht mehr und konnte doch nicht ohne sie sein; er empfand sämtliche Gefühle eines eifersüchtigen Liebhabers, nur nicht die Liebe selbst. Kurzum, er war von ihr besessen, er verabscheute sie und brauchte sie, so wie der Süchtige seine Droge braucht.

      Er hatte fast nichts über Anna herausgefunden. Ihm gegenüber hatte sie niemals, ob nun direkt oder indirekt, einen ihrer Freunde erwähnt, gerade so, als verfalle sie in seiner Abwesenheit in eine Art Winterschlaf. Ihre gemeinsamen Treffen fanden in unregelmäßigen Abständen statt, und Ort und Zeit bestimmte ausschließlich sie. Nur ein einziges Mal hatte er sie außerhalb ihrer Verabredungen besuchen wollen, doch obwohl er überzeugt davon war, ihr Gesicht im Fenster erkannt zu haben, hatte sie auf sein hartnäckiges Klopfen nicht reagiert. Ein anderes Mal hatte er versucht, ihr nach einem gemeinsamen Mittagessen zu folgen, doch war sie mit erstaunlicher und ärgerlicher Gewandtheit in der Menge untergetaucht, so wie eine Schlange im hohen Gras verschwindet. Eine Stunde später rief sie ihn an: «Heute nachmittag hast du versucht, mir zu folgen. Solltest du das noch einmal probieren, werden wir uns nie wiedersehen.» Sie legte auf, ohne seine Entschuldigungen abzuwarten, und ihre