Perlen vor die Schweine. Rich Schwab

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Название Perlen vor die Schweine
Автор произведения Rich Schwab
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871896



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Überlandbus, der mich nach einer weiteren halben Stunde in Brödershof hatte stehen lassen, von wo ich dann aus einer Telefonzelle Bescheid geben konnte, damit mich jemand abholen käme.

      Ich war’s ja nun wirklich gewohnt, über Land zu gurken, vor allem in Gefährten, die stinken, schaukeln und nicht gerade flott vorankommen, und auch auf dieser Fahrt hätte man schön seinen alten Ross McDonald lesen und sich mit Lew Archer amüsieren können, zwischendurch vielleicht ein bisschen Leute und Landschaft gucken – immerhin war die Deutsche Märchenstraße nicht weit – oder einfach nur vor sich hin dösen und über das komische Leben meditieren …

      Aber apropos Leute und komisches Leben – oder auch umgekehrt – leider stand da auf dem, was in Espelkamp als Marktplatz durchging, an der Bushaltestelle dieser Freak. Rabotti hatte ihm eine fürsorgliche Freundin in fettem Knatschrosa auf eine dunkelblaue Wollmütze gestickt. Karottenhosen an spindeldürren Beinen, aber schwere Malocherstiefel, ungefähr drei T-Shirts übereinander, das oberste eins von, ausgerechnet, Grobschnitt, und eine verwaschen grüne bayrische Trachtenjacke, von oben bis unten vollgepappt mit bunten Buttons à la Ich war bei Pink Pop!, Rock gegen Rechts, Legalize It! und so weiter. Das Beste war noch Atomkraft? Nein danke!, woraus jemand mit lila Filzstift Schwerkraft? Nein danke! gemacht hatte. Zwischen den Stiefeln klemmte eine verschlissene braune Aktentasche.

      »Ey – ich kenn’ dich irgendwo her, Ollen«, sprach er mich an. Es gibt so Typen, da weißt du gleich, wenn du auch nur »Tach« sagst, hast du sie an der Backe. Also guckte ich bloß und zuckte mit einer Schulter. »Echt, ey! Ich hab’ dich iiir-gend-wo …«

      Er zog ein Päckchen Drum aus einer Jackentasche. Diese Typen rauchen immer Drum. »’ne Kippe, Ollen?« Ich holte ein Päckchen von meinem eigenen Vorrat raus, hielt es hoch und schüttelte bedauernd den Kopf. Fehler. »Ey, wow! Is’ dat denn? Türkenkost, ha ha! Kann ich ma’ probier’n, ey?«

      Diese Typen wollen immer probieren. Ich öffnete die Packung und hielt sie ihm unter die Nase. Innerlich soufflierte ich ihm seinen nächsten Satz – Oh, is’ ja blonder, nee danke.

      »Ach so – is’ so’n Blonder, ey. Nö, lass ma’«, sagte er. Er kramte in seinem zerknüllten Scheiß-Drum herum, und ich kannte auch schon seine nächste Zeile. Kam prompt. »Au! Haste ma’n Paper, ey?«

      Diese Typen haben nie genug Blättchen. Drehen sich viermal am Tag dreiblättrige Joints, aber es kommt ihnen im Leben nicht in die bekiffte Birne, dass auf die Art die Blättchen womöglich nicht so lange halten wie der Tabak. Dafür ha’m sie ja immer Typen wie mich. Ich ging ja nicht mal zum Brötchenholen ohne ein zweites Päckchen Tabak und drei Extraheftchen Zigarettenpapier in der Tasche. Und zwei Feuerzeuge natürlich.

      »Spießer!«, hatte Kathrinchen mich deswegen mal genannt. »Immer auf Nummer Sicher, wa’?«

      »Du weißt nie, wo du landest«, hatte ich ihr erklärt, »und wann du von da wieder zurückkommst.«

      »Klar«, schnaubte sie, »Clint Eastwood und du …« Das ließ ich dann einfach mal so stehen.

      Für Rabotti hatte ich auch gleich noch mehr Gesprächsstoff – als ich ihm eins von meinen braunen Maisblättchen rauspulte.

      »Boah, ey! Geil, Ollen! Haste’n die her?« Ich nickte Richtung Friesenplatz. »Ah«, meinte er.

      Also drehten wir uns jeder eine. Kein Feuer oder ein Zippo, wettete ich mit mir selbst. Und wenn Zippo, dann irgendwelche albernen Kunststückchen damit. Verloren. Es waren Streichhölzer. Aber immerhin keine stinknormalen, sondern Kunststückchen-geeignete – seins rieb er lässig an einem besonders großen Button an, mit einem Foto von Jane Fonda als Barbarella drauf. Make Love Not War!, forderte sie mich per Sprechblase auf, das von Henry geerbte Nussknackerkinn grimmig zu einer Art Lächeln verrenkend, ihre Augen so liebevoll wie ein Stück Schmirgelpapier. Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Aber den alten Witz mit dem Kasten Bier auf’m Gesicht hatte ich noch nie so wahnsinnig komisch gefunden. Zugegeben, Jane – immer noch besser als Krieg … Aber mit Jane Asher zum Beispiel würde mir die Friedensbewegung doch ein bisschen mehr Spaß machen. Sorry.

      »Irgendwoher kenn’ ich dich, Ollen, weiß ich ganz genau.« Natürlich gab er so schnell nicht auf. Na ja, jetzt rauchten wir schon zusammen, konnte ich auch mit ihm reden.

      »Tatsächlich«, sagte ich also und hockte mich auf mein hölzernes Snare-Flightcase mit den typischen Aluleisten und Flügelschrauben. Dachte darüber nach, was aus Jane Asher wohl geworden sein mochte. Guckte auf dem menschenleeren, nassen Platz herum. Zählte sieben Häufchen schmutzig-graue Schneereste. Bewunderte den Dorf-Weihnachtsbaum, ein windschiefes Wrack mit neun elektrischen Kerzen, drei davon kaputt, und einer rot-weißen Stoffgirlande, das zwei Tage nach dem ersten Advent schon aussah, als säßen die Heiligen Drei Könige bereits seit vier Wochen wieder am Strand vom Roten Meer. Und im Stillen verfasste ich einen Leserbrief an den Espelkamper Landboten, ein geharnischtes Protestschreiben gegen Gustav Schnöken & Sohn, die ihre Marktschänke laut Aushang »mittag bis zwei, abend 17 bis 22 Uhr« geöffnet hatten. Jetzt war es viertel vor zwei, und das schiefe schwarze Rollgitter vor der Eingangstür war bereits unten. Falls es heute überhaupt schon mal oben gewesen war. Auf der anderen Seite des Platzes duckte sich eine dunkelrote Backsteinkirche unter dem bleigrauen flachen Himmel, hinter bunten Fensterchen schien Kerzenlicht zu flackern. Da war jetzt, zur Adventszeit, wohl mehr los als bei Gustav. Aber vielleicht war Gustav ja auch gleichzeitig der Pfarrer der Gemeinde – Seelsorger ist Seelsorger.

      »Ich wette, du bist Musiker, ey«, näherte mein neuer Kumpel sich dem Jackpot. Ich starrte auf die Kiste unter mir, den runden Koffer neben mir, mit meinen Becken drin und all den Aufklebern auf dem verschrammten Deckel – Guru Guru, Checkpoint Charlie, Eiliff und Embryo. Penner’s Radio

      »Nah dran.« Den Witz hatte er auch schon mal gehört. Er warf seine langen, verfilzten blonden Locken aus dem Gesicht und wieherte.

      »Schlagzeuger! Jau, Mann!« Er blies beide Backen auf, schob die Lippen vor und trommelte beidarmig in der Luft herum. »Dudu duduff duduff duffuff …« Irgendwas zwischen You Really Got Me und ’nem kleinen Jungen mit ’ner Märklin-Eisenbahn. Aus seiner Kippe sprühten Funken und aus seinem Mund Speichelbläschen zwischen einem Schwall Atemwölkchen. Jau, Mann.

      Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Und Durst. Vor allem Durst. Oder wie Opa Klütsch immer zu sagen pflegte: Mir es et esu kalt, datt isch vür louter Hunger nimmieh weiß, wat für ’nen Doosch isch han – esu mööd ben isch* … Und der nächste Bus kam laut Fahrplan, soweit man das zwischen all dem Geli liebt Jens-Gekrakel lesen konnte, um halb drei. Rock’n’Roll, I gave you all the best years of my life*, knödelte Kevin Johnson in meinem Hinterkopf.

      Um es kurz zu fassen: Er ging mir auf die Nerven, bis ich aussteigen musste. Nee, nicht Kevin. Da wusste ich aber dann auch, dass er zwar Klaus-Peter hieß, aber von allen nur Rabotti genannt wurde, weil er seit drei Jahren in zwei Jobs malochte – morgens um sechs ging er bis vier Trecker und Rasenmäher reparieren, und abends von sechs bis halb zehn stand er an einem elektrischen Hobel und verwandelte Schalbretter in Nut-und-Feder, ein Baumaterial für Innenausstattungen, von dem der deutsche Eigenheimbewohner und Gartenlaubenbesitzer nie genug kriegen kann. Ich hatte einen ganzen Packen Fotos von seinen vier Freundinnen gesehen, wusste, dass er sich mit achtzehn beim Bund eine Vorhautverengung mit einer Rasierklinge selbst operiert hatte (»Riesensauerei, Ollen – würd’ ich so nich’ noch ma’ machen, ey! Aber sechs Wochen danach! Mann! Ich bin Freitagabend nach Bremen in’n Puff un’ erst Sonntagabend wieder raus, ey!«). Ich hatte erfahren, dass er kiffte, seit er dreizehn war, dass es mit einer eigenen Band nie geklappt hatte (»Scheiße, Ollen, ich bin so musikalisch wie’n Sack doude Katzen, ey!«) und dass er, schon interessanter, neun Schwestern hatte, die älteste elf Jahre älter als er und die jüngste eins (»Un’ alle noch dünner als ich, Ollen!«). Und er war schon so mager, dass man ihm nicht zutrauen mochte, ein Loch in eine nasse Tapete zu hauen. Das täuschte allerdings – meinen Beckenkoffer hob er mit zwei Fingern in den Bus, als sei’s bloß die Bild-Zeitung.